Streit über regionale Spezialitäten Wurstige Debatte

Nürnberger Spezialität "Drei im Weckla": Phantomdiskussion
Foto: Daniel Karmann/ dpaDie Liste ist lang, sehr lang. Mehr als 1200 Lebensmittel sind in der DOOR-Datenbank der EU als regionale Spezialitäten registriert, Jahr für Jahr werden es mehr. DOOR steht für Database of Origin and Registration , und die Deutschen sind vom "Abensberger Spargel" über "Hessischen Handkäs" oder "Nürnberger Rostbratwürste" bis zum "Schwarzwälder Schinken" mit von der Partie. Insgesamt 79 Schmankerl aus deutschen Landen sind auf der Liste vermerkt. So könnte es immer weitergehen.
Doch da sind noch die Amerikaner, das geplante Freihandelsabkommen TTIP - und der deutsche Agrarminister. "Wenn wir die Chancen eines freien Handels mit dem riesigen amerikanischen Markt nutzen wollen", so hatte CSU-Mann Christian Schmidt dem SPIEGEL gesagt, "können wir nicht mehr jede Wurst und jeden Käse als Spezialität schützen."
Das Ergebnis: Empörung. Man wolle doch keine Nürnberger Rostbratwürstchen aus Kentucky, erklärte die Lebensmittelwirtschaft. Auch Allgäuer Emmentaler aus Iowa oder hessischer Apfelwein aus Houston kämen keinesfalls in Frage, ergänzten die Grünen. Der Franke Schmidt sah sich falsch verstanden, erklärte sich am Montag zum Unterstützer regionaler Spezialitäten. Natürlich wolle auch er keine Nürnberger aus Kentucky.
Es ist eine reichlich wurstige Debatte, mit der Deutschland da ins neue Jahr startet. Eine Scheindebatte, peinlich und ärgerlich zugleich. Denn erstens droht den regionalen Spezialitäten kaum Gefahr aus Amerika. Und zweitens erschweren solche oberflächlichen Gefechte eine echte Auseinandersetzung um TTIP. Erst hatten wir Deutschen Angst vorm Chlorhühnchen, jetzt fürchten wir um die "Stromberger Pflaume" und die "Gurken von der Insel Reichenau".
Zugestanden, es mag durchaus sein, dass das Abkommen letztlich keinen weitreichenden Schutz regionaler Kennzeichnungen enthalten wird. Der bereits vorliegende europäisch-kanadische Freihandelsvertrag Ceta , der vielen als Blaupause gilt, listet sogenannte Geographical Indications auf, darunter nur ein gutes Dutzend deutsche. Ohnehin ist bekannt, dass die Amerikaner mit Herkunftsbezeichnungen lockerer umgehen: So gibt es zum Beispiel "Champagner" aus Kalifornien oder "Black Forest Ham" von US-Rindern, der aber eher die Anmutung eines Kochschinkens hat. Man nimmt es da nicht so genau. Die US-Supermarktkette "Trader Joe's", eine Aldi-Nord-Tochter, verkauft unter Bezugnahme aufs Münchner Oktoberfest Würste unter der Bezeichnung "Hofbrau Brats" und bildet im Hintergrund die Altstadt von Prag ab.
Ernsthafte Konkurrenz? Wohl nicht. Und deshalb scheinen sie in der US-Verhandlungsdelegation auch eher von der Sorge getrieben, die Europäer könnten mit ihren geschützten Marken den amerikanischen Markt erobern. Nicht zuletzt Kanzlerin Angela Merkel hatte bei ihrem Amerika-Besuch im letzten Mai vor der US-Handelskammer auf die Chancen für den deutschen Mittelstand hingewiesen: Für eine kleine deutsche Brauerei sei es gegenwärtig noch "nahezu unmöglich", Bier in den USA zu vermarkten: "Ich sage Ihnen, Sie wissen gar nicht, was Sie da verpassen", sagte Merkel an ihre amerikanischen Zuhörer gerichtet .
Welche landwirtschaftlichen US-Produkte dagegen im Falle eines positiven TTIP-Abschlusses vermehrt nach Europa exportiert werden könnten, darüber will man sich im Washingtoner Agrarministerium offiziell noch keine ausführlichen Gedanken gemacht haben: Es gebe keine Produktlisten, weil die Verhandlungen ja noch im Fluss seien, heißt es. Klar scheint nur: Den Amerikanern geht es weniger um das Kopieren des "Salzwedeler Baumkuchens" als um dringend benötigte neue Absatzmärkte für landwirtschaftliche Rohprodukte wie Soja, Mais, Zuckerrüben.
Das ist genau der Punkt, an dem die deutsche Debatte ansetzen sollte. Denn die mit Abstand meisten Anbauflächen gentechnisch veränderter Pflanzen weltweit liegen in den USA. Deshalb ist die eindeutige Kennzeichnung von Produkten mit Gentechnik nötig. Eine Kennzeichnung übrigens, die nicht nur der Experte, sondern auch Lieschen Müller verstehen können sollte.
Aufreger wie Chlorhühnchen und Spezialitätenschutz verleiten dazu, an den wahren TTIP-Themen vorbei zu diskutieren. So hat unter anderem der US-Wirtschaftswissenschaftler und Nobelpreisträger Joseph E. Stiglitz darauf hingewiesen, dass es bei Freihandelsabkommen heutzutage gar nicht mehr primär um den Abbau von Zöllen gehe, da diese ohnehin weltweit niedriger seien als jemals zuvor; vielmehr stünden nun andere Handelsbarrieren im Fokus: etwa Regulationen wie Umweltvorschriften oder Arbeitnehmerrechte.
Kern der TTIP-Verträge soll dementsprechend die gegenseitige Anerkennung von Standards sein. "Es geht dabei nicht darum, das Beste aus beiden Systemen zur Pflicht zu machen, es geht um die Akzeptanz des geringsten gemeinsamen Nenners", urteilte der SPIEGEL im August . "Race to the bottom", nennen das die Amerikaner. Um die Chancen des Freihandels zu nutzen, braucht es aber ein "race to the top". Denn auch wenn dies nicht dem gegenwärtig herrschenden deutschen Zeitgeist entsprechen mag: Es gibt vieles, das die Amerikaner besser machen als die Europäer; umgekehrt gilt das ebenfalls. Dies ist die Debatte, die geführt werden sollte: Wie schafft man das Beste aus zwei Welten?
Die Furcht vor Phantom-Bratwürsten aus Kentucky dagegen führt zu nichts.
Anmerkung der Redaktion: In einer früheren Version des Artikels hieß es, der europäisch-kanadische Freihandelsvertrag verzichte auf regionale Kennzeichnungen. Tatsächlich enthält er sie. Wir bitten den Fehler zu entschuldigen.