Neue Parteien in der Türkei Aufstand gegen Erdogan

Präsident Erdogan: Einstige Weggefährten sagen sich los
Foto: Ozan Kose/ AFPWenn der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan in der Öffentlichkeit auftritt, zitiert er gern eine Zeile aus türkischen Volksliedern: "Beraber yuruduk biz bu yollarda." "Wir sind gemeinsam gegangen auf diesen Straßen."
Es ist ein Satz, den fast jeder Türke kennt. Erdogan will seinen Anhängern signalisieren: Ich gehöre zu euch, wir stehen zusammen. In Wahrheit jedoch marschieren Erdogan und etliche seiner ehemaligen Weggefährten schon länger nicht mehr zusammen. Das konservativ-religiöse Lager steht vor der Spaltung.
Erdogans Partei für Gerechtigkeit und Aufschwung (AKP) verstand sich seit ihrer Gründung 2001 als Bewegung, die dem politischen Islam in der Türkei zu mehr Macht und Sichtbarkeit verhelfen sollte. In den vergangenen Jahren ist sie jedoch zu einem Wahlverein für den Präsidenten verkommen. Viele hochrangige Parteifunktionäre haben das leise murrend hingenommen, andere, wie der ehemalige Präsident Abdullah Gül, haben sich entnervt aus der Politik zurückgezogen.

Ahmet Davutoglu: Einst Erdogans Verbündeter, nun sein Widersacher
Foto: Huseyin Aldemir/ REUTERSNun jedoch begehren gleich mehrere ehemalige AKP-Schwergewichte offen gegen Erdogan auf. Den Anfang macht wohl der frühere Ministerpräsident, Ahmet Davutoglu, von dem es heißt, er könnte bereits in dieser Woche eine eigene Partei gründen.
Davutoglu war lange Zeit einer von Erdogans willfährigsten Getreuen, diente als dessen Sicherheitsberater, Außenminister und Premier, fiel dann jedoch beim Präsidenten in Ungnade. Davutoglu, so der Vorwurf Erdogans, habe sich bei den Verhandlungen mit den Europäern über den Flüchtlingsdeal ab 2015 zu sehr in den Vordergrund gespielt. 2016 verlor er seinen Job.
"Ein neue politische Bewegung aufbauen und einen neuen Weg einschlagen"
Drei Jahre hielt Davutoglu mehr oder weniger still, ehe er im September die AKP verließ. Nun will er eine eigene Partei ins Leben rufen. Es sei eine "historische Verantwortung", eine "neue politische Bewegung aufzubauen und einen neuen Weg einzuschlagen", sagt er.
Davutoglu dürfte durchaus in der Lage sein, der AKP Wählerstimmen von frommen Muslimen abzujagen. Es ist jedoch äußerst fraglich, ob er wirklich jene demokratische Alternative zu Erdogan ist, als die er sich gegenwärtig inszeniert: Davutoglu war maßgeblich für die imperialistische türkische Außenpolitik verantwortlich, die Experten "Neo-Osmanismus" nennen, und die die Türkei im Mittleren Osten isoliert hat. Er hat zudem lange Zeit sämtliche Repressionen gegen Journalisten und Oppositionelle mitgetragen.

Ali Babacan (Archivfoto): Türkei in einem "dunklen Tunnel"
Foto: Jose Luis Magana/ APKonservative Demokraten setzen deshalb eher auf den früheren Wirtschafts- und Außenminister Ali Babacan, der 2015 aus der Regierung ausschied und nun ebenfalls die Gründung einer eigenen Partei vorbereitet.
Babacan gilt als Architekt des Wirtschaftswunders der frühen Erdogan-Jahre
Unter Erdogan stecke die Türkei in einem "dunklen Tunnel", sagte Babacan Ende November in einem Interview mit dem türkischen Sender Habertürk. Die Menschen scheuten sich, ihre Meinung frei zu äußern, junge Türkinnen und Türken sähen keine Perspektive.
Noch hat Babacans mögliche Partei keinen Namen. Der Politiker hat in dem Interview mit Habertürk aber bereits ein mögliches Programm umrissen: Er wolle Menschenrechte stärken, das Präsidialsystem abschaffen und die Türkei in die EU führen.
Babacan gilt als Architekt des Wirtschaftswunders der frühen Erdogan-Jahre. Er genießt quer über verschiedene Lager hinweg Ansehen. Ex-Präsident Gül soll ihm als Berater dienen.

Ekrem Imamoglu: Wahlsieger in Istanbul
Foto: Murad Sezer/ REUTERSObwohl noch gar nicht gegründet, kommen mögliche Parteien von Babacan und Davutoglu bei Umfragen gemeinsam schon jetzt auf bis zu 20 Prozent der Wählerstimmen. Parallel dazu befindet sich die Opposition im Aufwind, seit der Sozialdemokrat Ekrem Imamoglu im Juni überraschend die Bürgermeisterwahl in Istanbul gewann. Imamoglu ist es in den ersten Monaten seiner Amtszeit gelungen, den Menschen den Glauben daran zu vermitteln, dass eine andere Türkei möglich ist, dass die Erdogan-Herrschaft - für viele Türken inzwischen mit Repressionen und Gewalt verbunden - nicht ewig währen muss.
Zwar sind die nächsten Präsidentschaftswahlen erst für 2023 angesetzt. Sollten jedoch 39 der 290 AKP-Abgeordneten zu Babacan oder Davutoglu überlaufen, wäre Erdogan seine Mehrheit im Parlament los. Beobachter halten es für möglich, dass es dann bereits 2020 zu Neuwahlen kommen könnte.