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Protest in der Türkei: Vereint gegen Erdogan

Foto: ADEM ALTAN/ AFP

Türkei in Aufruhr Generation Gezi begehrt auf

Die Proteste in der Türkei flammen immer neu auf, auf den Straßen - und im Netz. Die Polizei nahm jetzt Twitter-Nutzer fest, weil sie beleidigende Nachrichten abgesetzt haben sollen. Die Aktion offenbart, wie verkorkst die Beziehung von Erdogans Regierung zum Internet ist.

Auf eines ist in Istanbul immer Verlass: auf den Geschäftssinn der Straßenhändler. Kaum war die Parkbesetzung einiger weniger Baumschützer zu den größten Massenprotesten angewachsen, die die Türkei seit langem erlebt hat, weiteten die Händler ihr Angebot aus. Rund um den Taksim-Platz und die große Einkaufsstraße Istiklal verkaufen sie für wenige Lira Atemschutzmasken und Schwimmbrillen, Schutz gegen das Tränengas.

Auch tagsüber, wenn es ruhig ist, haben selbst Touristen die Minimalausrüstung bei sich - es könnte ja jederzeit wieder losgehen. Denn tatsächlich ist die Dynamik der Zusammenstöße zwischen Demonstranten und Polizei nur schwer einzuschätzen.

In Istanbul verhalten sich die Sicherheitskräfte mittlerweile vergleichsweise zurückhaltend, nach ihren brutalen Einsätzen in den ersten Tagen des Protests, die internationale Empörung auslösten. Wenn es zu Zusammenstößen kommt, dann nachts im Stadtteil Besiktas. Hier liegt das Istanbuler Büro des Premierministers Recep Tayyip Erdogan, wohin eine Gruppe der Demonstranten vorstoßen wollte.

Aus Städten wie Ankara und Antakya kommen Meldungen, wonach die Gewalt auch dort immer wieder aufflammt. In Tunceli, im Osten des Landes, ging die Polizei demnach in der Nacht zu Mittwoch besonders hart vor, mit Tränengas und Gummigeschossen. Niemand weiß, wie viele Verwundete es bereits gab, doch Menschenrechtler und Ärzte gehen von etwa 3000 aus - die Regierung bestätigt nur ein Zehntel. Die Gewerkschaften haben zum Streik aufgerufen, die Aktienkurse gaben nach, die Lira sackte ab. Erdogans Stellvertreter entschuldigte sich - allerdings ausdrücklich nur bei "vernünftigen Demonstranten", nicht bei den Randalierern.

"Sie versuchen, Zusammenstöße zu provozieren"

In Istanbul strömten am Dienstagabend erneut Zehntausende auf den Taksim-Platz. Volksfeststimmung - nur, dass niemand weiß, ob und wann die Polizei wieder zuschlagen wird. "Sie versuchen, Zusammenstöße zu provozieren", sagt Mehmet, 30, der als Englisch-Lehrer arbeitet. Seit Tagen kommt er her, zusammen mit Freunden, immer nach Feierabend und dann bis spät in die Nacht. Dicht an dicht hocken sie auf Decken und Teppichen im Gezi-Park, haben Kartoffelchips dabei, Wasserflaschen. Straßenhändler verkaufen hier Wassermelonen, Köfte und Getränke. Der Geruch nach Gegrilltem zieht durch die Luft, es wird gesungen, debattiert, geklatscht, gelacht. Für viele ist es das erste Mal, dass sie bei so etwas dabei sind.

"Wenn ich stürze, hilft mir jemand auf", schwärmt Sema Ö., 29, Schauspielerin. Die Euphorie hat sie aufgeputscht, wie viele andere hier. "Wir merken, dass wir nicht allein, einander nicht egal sind." Auch sie kommt seit Tagen her, in ihren Augen und Lungen hat das Tränengas gebrannt. In den türkischen Metropolen ist eine Generation herangewachsen, die wenig anfangen kann mit der zum Teil sektiererischen Parteipolitik und die zugleich nicht mehr nur zuschauen will.

Über die Zusammenstöße in den anderen Städten informieren sie sich im Netz, bei Facebook und Twitter, bei ausländischen Nachrichtenseiten, kaum bei den großen türkischen Fernsehsendern und Zeitungen, denen sie misstrauen. "Kochsendung" ist zum geflügelten Wort im Gezi-Park geworden, denn CNN Türk strahlte Bilder von gutem Essen aus, anstatt über den Beginn der Revolte zu berichten.

Auf dem Taksim-Platz zücken viele Demonstranten ihre Smartphones und iPads, sobald es lauter wird, irgendwo Bengalos brennen oder es nach Tränengas riecht - sie dokumentieren die Ereignisse und verbreiten sie im Internet. Das Magazin "Foreign Policy" hat einige Kurzvideos der Proteste, gefilmt mit der Twitter-App Vine, in seinem Blog veröffentlicht . Überschrift: "Die türkische Revolution wird ge-vined"

Die verkorkste Beziehung der türkischen Regierung zum Netz

Die Behörden reagieren erneut mit Härte: Zwei Dutzend Festnahmen hat es laut der staatlichen Nachrichtenagentur Anadolu gegeben, wegen "irreführender und beleidigender Informationen", verbreitet im Netz; zuvor hatte Erdogan bereits gegen Twitter gewettert. Erneut zeigt sich hier die verkorkste Beziehung der türkischen Regierung zum Netz. Erdogan setzt auf das Web 0.0.

Zwar geben sich führende Politiker wie Staatspräsident Abdullah Gül, der einen eigenen Twitter-Account betreibt, modern und weltoffen. Sie lassen Computer in Schulen aufstellen, preisen die Möglichkeiten des Netzes für Wirtschaft und Gesellschaft . Doch bei der Meinungsfreiheit hört das Verständnis auf - wie sich in der Vergangenheit immer wieder zeigte, etwa beim Streit um einen Online-Filter.

Fatal für kritische Netzaktivisten sind zudem zwei Rechtsnormen: Ein Gesetz aus dem Jahr 2007 erlaubt es, gleich ganze Internetseiten zu sperren, wenn darauf einzelne anstößige Inhalte zu finden sind. Darunter fällt nicht nur der Aufruf zum Selbstmord oder Kinderpornografie, sondern auch der Verstoß gegen ein anderes, sehr altes Gesetz aus dem Jahr 1951, das sogenannte Atatürk-Gesetz. Es verbietet bei Haftandrohung, das Andenken des Republikgründers Mustafa Kemal Atatürk herabzusetzen.

Das führte dazu, dass jahrelang der Zugang zu YouTube gesperrt war. Türkische Internetnutzer konnten die Videoplattform gut zwei Jahre lang nicht direkt ansteuern; sie wussten sich allerdings anders zu helfen: An Universitäten, in Internetcafés, Studenten-WGs, Büros und Redaktionen nahmen sie einfach einen Umweg über Proxy-Server, durch die sich die eigene Identität verschleiern lässt.

So passt es auch zum Protest, dass die Straßenhändler nicht nur Schutzbrillen gegen das Tränengas verkaufen, sondern auch Guy-Fawkes-Masken, das Symbol der Web-Guerilla Anonymous.

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