Türkei Die Rückkehr der Generäle
Istanbul Seit vergangener Nacht geht in der Türkei ein längst tot geglaubtes Gespenst wieder um: die Angst, am nächsten Morgen aufzuwachen und Panzer rollen zu hören. Es war 23:30 Uhr, als der Generalstab eine Erklärung verbreiten ließ: Man sehe die Republik ernsthaft in Gefahr, die anti-laizistischen Vorfälle häuften sich und die wenige Stunden zuvor im Parlament abgehaltene erste Runde der Präsidentschaftswahl sei nicht geneigt, die Sorgen des Militärs zu zerstreuen. Niemand solle sich täuschen. Das Militär werde offen Position beziehen, wenn es notwendig würde.
Die Erklärung schreckte die Türken auf. Bis drei Uhr morgens wurde auf allen Fernsehkanälen live über die möglichen Konsequenzen der Stellungnahme diskutiert. Fast einhellige Meinung aller politischen Beobachter quer durch die politischen Lager: Das war ein Ultimatum der Generäle. Die einzige Möglichkeit einer Zuspitzung der Krise zu entkommen, sei jetzt die Aussetzung der Präsidentschaftswahlen und stattdessen vorgezogene Neuwahlen des Parlaments.
Bis heute Nachmittag gibt sich die Regierung Erdogan allerdings zumindestens nach Außen hin unbeeindruckt. Das Militär unterstehe dem Ministerpräsidenten, ließ Tayyip Erdogan durch seinen Regierungssprecher Cemil Cicek erklären. Wenn es Beschwerden habe, gebe es institutionelle Wege, die dafür vorgesehen sind. Bei einem Auftritt vor dem türkischen Roten Kreuz sagte Erdogan dann persönlich, dass Volk werde es nicht zulassen, dass es in eine Katastrophe getrieben werde.
Die Frage bleibt: Ist Erdogan tatsächlich so gelassen? Oder will er nur vor seinen Wählern das Gesicht wahren, während hinter den Kulissen verhandelt wird? Cicek sagte, Erdogan hätte bereits ein klärendes Gespräch mit Generalstabschef Yasar Büyükanit geführt.
Sorge vor einer Reislamisierung
Der Konflikt schwelt bereits seit Monaten. Seit letztem Herbst trommelt die kemalistisch-nationalistische Oppositionspartei CHP mit Unterstützung des noch amtierenden Präsidenten Ahmet Necdet Sezer und des Militärs dafür, dass die im Mai turnusgemäß anstehende Wahl eines neuen Staatspräsidenten nicht mehr durch das jetzige Parlament erfolgt, dessen Legislaturperiode im Sommer endet. Stattdessen sollen die Wahlen vorgezogen werden, damit dann ein neues Parlament den Staatspräsidenten wählen kann.
Im jetzigen Parlament hat die islamisch grundierte AKP von Ministerpräsident Erdogan und Außenminister Gül eine absolute Mehrheit. Sie kann deshalb im dritten Wahlgang, wenn keine Zweidrittel-Mehrheit mehr erforderlich ist, einen Kandidaten ihrer Wahl zum Staatspräsidenten machen. Was auf den ersten Blick wie eine normale demokratische Prozedur aussieht, wäre in den Augen vieler Türken allerdings eine kleine Kulturrevolution. Noch nie in der 84 jährigen Geschichte der türkischen Republik gab es einen Staatspräsidenten, der nicht aus dem kemalistisch-laizistischem Lager kam.
Das ist es aber nicht allein. Da die moderat-islamische AKP bereits den Ministerpräsidenten und den Parlamentspräsidenten stellt, wäre die bisherige Elite auf allen staatlichen Ebenen, außer im Militär, entmachtet. Einer Reislamisierung des Landes, so die Befürchtung, stünde dann nur noch das Militär im Wege.
Viele Vertreter der Opposition oder ihr nahe stehende politische Beobachter argumentieren damit, dass das undemokratische Wahlsystem mit seiner Zehn-Prozent-Hürde dazu geführt hat, dass rund 40 Prozent aller Wählerstimmen nicht berücksichtigt wurden. So regiert die AKP mit lediglich 32 Prozent, die sie bei den letzten Wahlen erreichte, als hätte sie die absolute Mehrheit der türkischen Wähler hinter sich. Die Partei solle deshalb nicht überziehen, sondern einen konsensfähigen Kandidaten für das Präsidentenamt nominieren. Oder vorgezogenen Wahlen zustimmen, damit dann das neu legitimierte Parlament den immerhin für sieben Jahre gewählten Präsidenten, bestimmen kann.
Die AKP hat bisher beide Forderungen als undemokratisch zurückgewiesen. Erdogan wollte keine vorgezogenen Neuwahlen, weil unsicher ist, ob die AKP noch einmal die absolute Mehrheit der Mandate erreichen kann. Als er sich nach monatelangen Debatten dazu durchgerungen hatte, nicht selbst für die Präsidentschaft anzutreten, sondern im letzten Moment den farblosen Verteidigungsminister Vecdi Gönül zu nominieren, zwang ihn der islamisch-konservative Flügel seiner Partei, Flagge zu zeigen und wenigstens den zweiten Mann aus der Parteispitze, Abdullah Gül, zum Präsidentschaftskandidaten auszurufen.
Opposition auf Destruktionskurs
Die Opposition versucht nun seit gestern, durch den Boykott der Parlamentssitzung beim ersten Wahlgang für den Präsidentenposten die Wahl platzen zu lassen. Sie hat zudem beim Verfassungsgericht eine Klage eingereicht, nach der der erste Wahlgang wegen Formfehlern annulliert werden soll. Dabei ist es der CHP gelungen, die beiden bürgerlichen rechten Parteien ANAP und DYP auf ihre Seite zu ziehen und die AKP zu isolieren.
Wenige Stunden später kam dann die Erklärung des Militärs, die im Kern nichts anderes bedeutet, als dass die Generäle einen Präsidenten Abdullah Gül als Gefahr für die laizistsiche Republik ansehen und nicht akzeptieren werden. Der Präsident ist Oberbefehlshaber der Armee und spielt eine Schlüsselrolle bei der Besetzung aller hohen staatlicher Posten.
Mitte der 90er Jahre hat die Armee zuletzt eine Regierung zum Rücktritt gezwungen. Damals ging es um Necmettin Erbakan, die Gründungsfigur des politischen Islam in der Türkei. 2002 hat das Militär dann mit Erdogan und Gül eine Regierung aus dem, allerdings auch geläuterten islamischen Lager, akzeptiert. Nicht zuletzt, weil Präsident Sezer als traditioneller Kemalist ein Gegengewicht darstellte. Käme der Präsident, mit welcher demokratischen Legitimation auch immer, nun auch noch aus dem religiösen Lager, sieht sich das Militär in seiner Macht unmittelbar bedroht. In diesem Fall glaubt der Generalstab anscheinend immer noch, trotz EU-Verhandlungen und enge internationale Einbindung in Nato, dem ameriakischen Antiterror-Kampf und Uno-Friedensmissionen, die Demokratie zur Disposition stellen zu können und notfalls die Panzer rollen zu lassen.
Noch ist es aber nicht so weit. Vermutlich wird das Verfassungsgericht Anfang kommender dem Eilantrag der Opposition stattgeben und das Wahlverfahren zum Präsidenten bis zur endgültigen Klärung vor Gericht aussetzen. Das böte dann der AKP die Gelegenheit, ohne Gesichtsverlust das Parlament aufzulösen und möglichst schnell, frühestens 45 Tage später, Neuwahlen zum Parlament abzuhalten. Dann werden auch die Karten für das Präsidentenamt neu gemischt.