Türkisches Parlament billigt Reform Auf dem Weg nach Erdoganistan

Türkisches Parlament billigt Reform: Auf dem Weg nach Erdoganistan
Foto: ADEM ALTAN/ AFPEs war ein letzter verzweifelter Versuch, die Selbstentmachtung des Parlaments aufzuhalten: Die türkische Oppositionspolitikerin Aylin Nazliaka kettete sich am vergangenen Donnerstag mit Handschellen an das Rednerpult im Abgeordnetenhaus in Ankara. "Bevor das Parlament geschlossen wird, schließe ich mich hier ein", sagte sie.
Ihr Protest verhallte ungehört. Nach 129 Sitzungsstunden, nach aggressiven Debatten und Handgreiflichkeiten im Parlament sprachen sich die Abgeordneten am frühen Samstagmorgen endgültig mit einer Drei-Fünftel-Mehrheit für eine Verfassungsreform aus, die sämtliche Macht im Staat beim Präsidenten bündelt.
Recep Tayyip Erdogan ist seinem Ziel, einen Ein-Mann-Staat zu etablieren, damit ein großes Stück nähergekommen. Sollten nach dem Parlament nun auch die Bürger in einem Referendum der Einführung des Präsidialsystems zustimmen, dann ist die parlamentarische Demokratie in der Türkei, die trotz Krisen und Militäraufständen seit der Gründung der Republik 1923 Bestand hatte, Geschichte.
Präsident Erdogan selbst spricht von einem "Neuaufbau der Türkei". Ein Präsidialsystem, behauptet er, würde dem Land Sicherheit und Wohlstand bringen. Oppositionelle hingegen warnen vor einer Diktatur. "Wir haben in unserer Literatur einen Fachbegriff für ein solches System", sagte der Vorsitzende der türkischen Anwaltskammer, Metin Feyzioglu: "Sultanat."
Die geplante Gesetzesänderung ist, darin sind sich Beobachter einig, der weitest reichende Eingriff in die politische Architektur der Türkei seit der Einführung des Mehrparteiensystem 1946. Die neue Verfassung würde es Erdogan ermöglichen, beinahe unkontrolliert zu herrschen.
So soll der Präsident künftig
- seine Stellvertreter, Minister, Bürokraten und 12 von 15 Verfassungsrichtern ernennen und nach Belieben wieder absetzen können,
- Gesetze per Dekret erlassen können,
- von dem Gebot der parteipolitischen Neutralität entbunden werden,
- das Parlament auflösen können.
Zudem soll
- das Amt des Premierministers abgeschafft werden,
- das Abgeordnetenhaus von 550 auf 600 Abgeordnete anwachsen, aber seine Aufsichtsfunktion über die Exekutive verlieren.
Vizeregierungschef Numan Kurtulmus hat angekündigt, die Volksabstimmung über die Verfassungsänderung in der ersten Aprilwoche abhalten zu wollen. Umfragen sehen Befürworter und Gegner des Präsidialsystems derzeit etwa gleichauf. Der Türkei stehen zweieinhalb aufreibende, hitzige Monate bevor.
Wie ein Alleinherrscher aufgetreten
Erdogan hat die Türkei elf Jahre als Premier regiert, bevor er im Sommer 2014 in den Präsidialpalast einzog. Die türkische Verfassung teilt dem Staatsoberhaupt, ähnlich wie in Deutschland, weitgehend zeremonielle Pflichten zu. Die Regierungsgeschäfte werden vom Ministerpräsidenten geführt.
Erdogan aber hat sich nie an diese Rollenverteilung gehalten. Er ist bereits in den vergangenen zweieinhalb Jahren wie ein Alleinherrscher aufgetreten.
Nun will er seine Allmachtstellung in der türkischen Politik durch den Systemwechsel auch formal über Jahre hinweg zementieren. Die Verfassungsreform ist das wichtigste Projekt seiner Amtszeit als Präsident. Erdogan kann es sich kaum leisten zu scheitern.
Türkei in der Krise
Die Türkei aber steckt in einer schweren Krise. Massenverhaftungen infolge des Putschversuchs vom 15. Juli 2016 haben den Staatsapparat lahmgelegt. Das Militär ist in Aufruhr. Hinzu kommen Terroranschläge durch kurdische und islamistische Extremisten, wie zuletzt an Silvester im Istanbuler Nachtklub Reina. Bei den Angriffen starben in den vergangenen Monaten Hunderte Menschen. Der Tourismus ist eingebrochen. Die Lira ist im Vergleich zum Dollar so schwach wie seit 1981 nicht mehr. Die Arbeitslosigkeit ist auf ein Siebenjahreshoch geklettert.
Erdogan weist jede Verantwortung für den Niedergang seines Landes von sich. Er behauptet, nur durch eine Machtkonzentration im Präsidentenpalast ließe sich Stabilität zurückgewinnen.
Für die Opposition ist das Referendum die letzte Chance, einen Ein-Mann-Staat mit Erdogan an der Spitze zu verhindern. "Die kommenden zwei Monate werden über die Zukunft der Türkei entscheiden", sagt der ehemalige Chefredakteur der linksliberalen türkischen Tageszeitung "Cumhuriyet", Can Dündar. "Wir müssen die Zivilgesellschaft gegen die Verfassungsänderung mobilisieren", fordert Riza Türmen, ehemals Richter am europäischen Menschenrechtsgerichtshof in Straßburg.
Regierung und Opposition verfügen in dem Wahlkampf über ungleiche Mittel. Erdogan kontrolliert beinahe sämtliche Medien. Kritische Journalisten wie der Reporter Ahmet Sik wurden verhaftet oder mussten, wie Dündar, das Land verlassen. 149 Medienhäuser wurden seit dem Putschversuch vergangenen Sommer geschlossen.
Als sich vor wenigen Tagen Demonstranten in Ankara zu einem Protest gegen das Präsidialsystem versammelten, wurden sie umgehend von Wasserwerfern vertrieben.
Vor zehn Jahren sei die Türkei unter Erdogan auf dem Weg zu mehr Demokratie und Rechtstaatlichkeit gewesen, sagt Hugh Williamson, Europadirektor der Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch. "Das Präsidialsystem wird zerstören, was auch immer von diesem Erbe übrig ist."