Internet in der Türkei Erdogan gefällt das nicht

Erst ein neues Internetgesetz, jetzt Drohungen gegen Facebook und YouTube: Der türkische Premier Erdogan treibt die Kontrolle des Netzes voran und wettert gegen die "Roboterlobby". Seine Attacke offenbart, wie gespalten das Verhältnis seiner Regierung zum Internet ist.
Umstrittener Premier (Archiv): Erdogan wünscht sich das Web 0.0

Umstrittener Premier (Archiv): Erdogan wünscht sich das Web 0.0

Foto: KAYHAN OZER/ AFP

Istanbul/Berlin - Lange war wenigstens Wut; doch selbst die Wut ist verpufft und Fatalismus gewichen. Was da an der Spitze ihres Landes vor sich geht, lässt viele Menschen in der Türkei verzweifeln: Fassungslos sehen sie mit an, wie die Regierung ihre Freiheitsrechte immer weiter einschränkt. Wie Premier Recep Tayyip Erdogan die Korruptionsaffäre seiner Regierung durch eine immer autoritärere Herrschaft einzudämmen versucht.

Jetzt drohte Erdogan, Facebook und YouTube sperren lassen zu wollen. Zuvor waren im Netz mutmaßliche Telefonmitschnitte von ihm aufgetaucht - manche bezeichnete der Ministerpräsident als Fälschung, andere bestätigte er.

Zwar schloss Staatspräsident Abdullah Gül eine solche Web-Blockade nur wenige Stunden später aus, doch zeigt der Vorstoß Erdogans erneut, wie gespalten das Verhältnis der Türkei zum Internet ist - und wie tief bei den Mächtigen des Landes der Wunsch nach weitgehender Kontrolle der Online-Medien sitzt. Selbst wenn die jüngsten Drohungen Erdogans, der von einer "Roboterlobby" fabulierte, keine unmittelbaren Folgen haben sollten - längst ist die digitale Freiheit in der Türkei eingeschränkt.

Gül mag Erdogan öffentlich widersprechen, mag einen eigenen Twitter-Account betreiben, doch erst vor wenigen Wochen unterzeichnete er ein Gesetz, das es Behörden erlaubt, Webseiten innerhalb einiger Stunden zu blockieren, ohne wie bisher einen Gerichtsbeschluss abzuwarten. Zudem sieht es eine Vorratsdatenspeicherung für zwei Jahre vor, mit Zugriffsrecht für die Sicherheitsbehörden.

"Erdogan regiert in unser Leben hinein"

Vor allem die türkische Jugend leidet unter den Verboten. "Viele von uns haben resigniert", sagt Esra, Studentin an der Istanbuler Bosporus Universität. Sie sitzt mit Freundinnen in einem Starbucks Café nahe dem Campus im Stadtteil Bebek. Die jungen Frauen tippen Nachrichten in ihre iPhones, verschicken Bilder. Fast alle Gäste in dem Café sitzen über Laptops gebeugt oder wischen auf ihren Smartphones herum. Für sie gehören soziale Medien selbstverständlich zum Alltag - in kaum einem anderen Land sind die Nutzerzahlen von Facebook im Verhältnis zur Einwohnerzahl höher als in der Türkei. "Erdogan regiert in unser Leben hinein. Es ist unerträglich", sagt Esra. "Niemand weiß, was ihm als nächstes einfällt."

Ähnliches ist aus der Opposition zu hören. Die CHP-Abgeordnete Ayse Danisoglu klagt: "Wir stecken mitten in der schwersten Krise der jüngeren türkischen Geschichte." Das habe mit Demokratie nichts mehr zu tun, Rechte und Gesetzte zählten nichts mehr. "Die Presse ist gleichgeschaltet. Nun schafft Erdogan schrittweise das Internet ab", sagt Danisoglu und fragt: "Wie weit will er eigentlich noch gehen?"

So einiges ist Erdogan und seinen Gefolgsleuten bislang schon eingefallen. Während der Gezi-Park-Proteste im vergangenen Jahr gingen die Behörden hart gegen einige Online-Aktivisten vor: Dutzende Festnahmen hatte es laut der staatlichen Nachrichtenagentur Anadolu gegeben, wegen "irreführender und beleidigender Informationen", verbreitet im Netz; zuvor hatte Erdogan bereits gegen Twitter gewettert.

Hologramm-Premier ohne Liebe zum Netz

Immer wieder zeigte sich in den vergangenen Jahren die verkorkste Beziehung der türkischen Regierung zum Netz - Erdogan wäre ein Web 0.0 am liebsten. Zwar geben sich führende Politiker modern und weltoffen, neulich ließ sich Erdogan als Hologramm vor Parteianhänger projizieren, um eine Rede zu halten. Die AKP-Regierung lässt Computer in Schulen aufstellen und preist die Möglichkeiten des Netzes für Wirtschaft und Gesellschaft. Doch bei der Meinungsfreiheit hört das Verständnis auf.

Bereits im Jahr 2011 tobte ein Streit um einen staatlichen Online-Filter. Schon zuvor erlaubten es Gesetze, Internetseiten vorübergehend zu sperren. Gut zwei Jahre ließ sich beispielsweise YouTube nicht direkt ansteuern. Türkische Internetnutzer mussten einen Umweg über Proxy-Server nehmen, durch die sich die eigene Identität verschleiern lässt.

Jetzt gilt das verschärfte Internetgesetz, das sowohl die EU als auch die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) missbilligen. EU-Erweiterungskommissar Stefan Füle sprach von "ernsthafter Besorgnis" und forderte, das Gesetz müsse in Übereinstimmung mit EU-Standards neu gefasst werden. Der OSZE zufolge bedeutet das Gesetz, dass die Regierung "Kommunikationsdaten aller Internetnutzer ohne gesetzliche Einschränkungen sammeln" kann, und zwar ohne dass die Nutzer je erfahren, welche Informationen wie erhoben wurden.

Zu Erdogans jüngstem Vorstoß sagte die Pressefreiheitsbeauftragte der OSZE, Dunja Mijatovic: "Die Blockade jeder Art von Informationsquelle, inklusive Websites und sozialer Medien, entspricht Zensur." Eine solche Entscheidung wäre ein Verstoß gegen die OSZE-Regularien.

Auch die Organisation Reporter ohne Grenzen hatte die türkische Internet-Gesetzgebung mehrfach scharf kritisiert. Durch Erdogans aktuelle Drohungen sieht Geschäftsführer Christian Mihr die Befürchtungen bestätigt: "Das Abschalten von Internetseiten und das Wettern sind die falsche Reaktion auf Korruptionsvorwürfe und Proteste." Wenn Erdogan seine Drohung wahrmachen würde, wäre das die erste Anwendung des umstrittenen Gesetzes und füge sich logisch ein in das bisherige Regierungshandeln.

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