

Spalten statt versöhnen, das ist die Devise des türkischen Regierungschefs Recep Tayyip Erdogan zwei Wochen vor den Kommunalwahlen in der Türkei. Am Freitag erwähnte er bei einem Wahlkampfauftritt in Gaziantep erstmals öffentlich den Namen des 15-jährigen Berkin Elvan, der am Dienstag in Istanbul seinen schweren Kopfverletzungen erlegen war, nachdem ihn im Sommer ein Tränengasgeschoss am Kopf getroffen hatte.
Doch anstatt sein Mitgefühl auszudrücken, stieß er die Familie Elvan und Hunderttausende von Menschen, die um den Jungen trauern, vor den Kopf: Berkin Elvan sei "Mitglied einer terroristischen Organisation" gewesen, sagte Erdogan. Er habe sein Gesicht mit einem Schal bedeckt, als er auf der Straße unterwegs gewesen sei.
Er nahm die Polizei in Schutz und rechtfertigte, dass auf den Jungen geschossen worden sei. Die Polizei habe sein Gesicht nicht sehen und sein Alter nicht einschätzen können, sagte Erdogan. Berichte, wonach Berkin an jenem Sonntagmorgen, dem 16. Juni 2013, am Morgen unterwegs gewesen sei, um Brot fürs Frühstück zu kaufen, seien "eine Erfindung der Opposition". Der Chef der größten Oppositionspartei CHP, Kemal Kilicdaroglu, "lügt wie immer", sagte der Ministerpräsident.
Zehntausende Menschen, die am Trauerzug teilnahmen und im ganzen Land des Jungen gedachten, beschuldigte Erdogan, es gehe ihnen "nicht um das Begräbnis eines Kindes", sondern diese "Feinde der Türkei" wollten der Wirtschaft und dem Frieden im Land schaden.
Erdogan-Anhänger verbreiten schon seit Monaten die Theorie, Berkin sei in Wahrheit ein gewaltbereiter Demonstrant gewesen. Im Internet kursieren Fotos eines vermummten Jugendlichen, bei dem es sich angeblich um Berkin Elvan handelt.
Erster Widerstand aus Erdogans eigener Partei
Sami Elvan behauptet dagegen, sein Sohn habe vor seinem Tod lediglich Brot holen wollen. "Er ist ein friedliebender Junge, der mit den Gezi-Protesten überhaupt nichts zu tun hat", sagte Elvan, ein Textilarbeiter, SPIEGEL ONLINE vor einigen Wochen. "Wir sind nicht sehr politische Menschen."
Elvan beklagte sich, die Regierung habe sich in den 269 Tagen, in denen sein Sohn im Koma lag, nie bei der Familie gemeldet. Erst am Tag vor dem Tod Berkins, als sein Gesundheitszustand sich rapide verschlimmerte, habe Staatspräsident Abdullah Gül angerufen und sein Mitgefühl ausgedrückt. Nachdem der Junge gestorben war, bekundeten Gül und mehrere Minister aus Erdogans AK-Partei ihr Beileid.
Bei der Kundgebung nach Berkins Beisetzung war am Mittwochabend der 22-jährige Burak Can Karamanoglu erschossen worden. Erdogan-Anhänger machten dafür die linksradikale Terroristenorganisation DHKP-C verantwortlich.
Erdogan hatte nach Buraks Tod gesagt: "Was werden diejenigen, die Trauer bekundeten (über Berkin Elvan - d. Red.), über die bedauerliche Tötung unseres lieben Kindes Burak sagen?" Die Väter von Berkin und Burak telefonierten miteinander und ließen verlauten, dass die sich von der Politik nicht instrumentalisieren lassen wollten.
Auch innerhalb der AK-Partei regt sich inzwischen zarter Widerstand gegen Erdogan. "Er steht halt unter großem Druck", versuchte ein Abgeordneter ihn nur noch halbherzig in Schutz zu nehmen. Für Ärger dürfte auch ein neues auf YouTube veröffentlichtes Tonband sorgen - demnach befahl Erdogan die Niederschlagung der Gezi-Demonstrationen ohne Wissen seines Innenministers.
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Für Tausende regierungskritische Türken ist er ein Held, für Premier Ergogan ein "Terrorist": der 15-jährige Berkin Elvan, hier auf dem Plakat eines kurdischen Protestanten in Griechenland.
Protest in Istanbul: Nach dem Tod des 15-jährigen Berkin Elvan gingen im Laufe dieser Woche in mehreren Städten der Türkei Demonstranten gegen die Regierung Erdogan auf die Straße.
Die Mutter des Jungen machte Ministerpräsident Erdogan für den Tod ihres Sohnes verantwortlich. Der Junge war nach 269 Tagen im Koma gestorben.
Örtlichen Medien zufolge wurden in der Nacht zum Mittwoch mehr als 150 Demonstranten festgenommen. Die Nachrichtenagentur Dogan berichtet, rund 20 Demonstranten seien verletzt worden.
Wasserwerfer gegen Demonstranten in Istanbul: Auch der Junge Berkin Elvan starb an den Spätfolgen eines Polizeieinsatzes.
Pyrotechnik gegen die Polizei in Istanbul am Dienstag: Die Bilder erinnern an die Protestbewegung vom vergangenen Sommer.
Polizisten hinter Schutzschilden in Istanbul: Damals, im Sommer 2013, entwickelte sich eine Demonstration von Umweltschützern im Istanbuler Gezi-Park gegen das Abholzen von Bäumen zu einem landesweiten Protest gegen den autoritären Regierungsstil von Erdogan.
Tränengas gegen Demonstranten in Istanbul: Der Junge war vor neun Monaten von einem Tränengasgeschoss der Polizei am Hinterkopf getroffen worden.
Demonstranten in Ankara erinnern an Berkin Elvan: Mit den Gezi-Protesten in Istanbul hatte der Verstorbene nichts zu tun - er wollte nur Brot holen, als ihn das Geschoss traf.
Trauer um Berkin Elvan in Ankara: Auf einem zentralen Platz der Hauptstadt versammelten sich am Dienstag Hunderte Demonstranten.
Proteste gegen die Regierung: In Ankara ging die Polizei mit Tränengas und Wasserwerfern gegen rund tausend Studierende vor der Technischen Universität vor, die mit Fotos des toten Berkin in den Händen eine wichtige Verkehrsader blockierten.
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