Fortschrittsbericht EU-Kommisson stellt Türkei miserables Zeugnis aus

Recep Tayyip Erdogan
Foto: ADEM ALTAN/ AFPDie EU-Kommission stellt der Türkei in ihrem neuen Fortschrittsbericht zu den Beitrittsverhandlungen ein miserables Zeugnis aus. So kritisiert die Behörde "Rückschritte" im Bereich Justiz, Menschenrechte und Meinungsfreiheit. Sehr kritisch äußert sich die Kommission zudem über die harte Reaktion auf den Putschversuch von Teilen des türkischen Militärs im Juli. Die "Breite der Reaktion" und ihre "kollektive Natur" würden Fragen aufwerfen, heißt es.
Im Zuge der Aufarbeitung des Putsches seien etwa 60.000 Menschen verhaftet oder suspendiert worden, darunter etwa ein Fünftel der Richter und Staatsanwälte.
Der Bericht, der mit Anhängen 102 Seiten umfasst, soll am Mittwoch vorgestellt werden. Er ist der mit Abstand sensibelste Teil von insgesamt sieben Länderberichten über EU-Beitrittskandidaten (neben der Türkei geht es um die Staaten des Westbalkan, wie etwa Albanien oder Serbien).
Nicht nur hochrangige EU-Beamte, auch EU-Parlamentspräsident Martin Schulz (SPD) werfen dem türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan vor, unter dem Deckmantel der Bekämpfung der Putschisten den Umbau der Türkei in ein autoritäres Präsidialregime zu betreiben. Die EU-Beitrittsgespräche mit der Türkei laufen seit 2005, derzeit sind 16 der 35 sogenannten Verhandlungskapitel eröffnet.
Deutliche Sprache
In dem Bericht nehmen die EU-Beamten das Vorgehen der türkischen Behörden gegen unabhängige Medien unter die Lupe. Sie kritisieren schon länger, dass es beispielsweise keine unabhängige türkisch-kurdische Radio- oder Fernsehanstalt mehr gebe. Zudem beleuchten die Beamten, wie die Türkei das Insolvenzrecht gegen unliebsame Medienhäuser einsetze. Allein die Fülle und Dichte der in dem Bericht aufgezählten Fälle spreche eine deutliche Sprache, sagen mit dem Bericht vertraute Personen.
Zuletzt hatte sich auch Kanzlerin Angela Merkel (CDU) besorgt über die Verhaftungen von Journalisten in der Türkei geäußert. Die türkischen Behörden hatten am vergangenen Montag 13 Mitarbeiter von "Cumhuriyet" wegen angeblicher Unterstützung einer terroristischen Organisation festgenommen. Am Samstag wurden Haftbefehle gegen den Chefredakteur und acht weitere Mitarbeiter der Zeitung erlassen.
Lage der Flüchtlinge
Beim Thema Visaliberalisierung bleibt der Fortschrittsbericht bei der bekannten Linie der EU und verweist auf die fehlende Umsetzung wichtiger Voraussetzungen, wie etwa eine Änderung der umstrittenen Anti-Terror-Gesetze. Sie ermöglichten es den türkischen Behörden "willkürlich" vorzugehen, heißt es erneut.
Vereinzelt enthält das Papier auch positive Anmerkungen. So halte sich die Türkei im Großen und Ganzen an den mit der EU vereinbarten Flüchtlingsdeal, auch wenn die Flüchtlingszahlen zuletzt leicht gestiegen seien. Auch sei es im Zuge der Niederschlagung des Putsches zu keiner Verschlechterung der Lage der Flüchtlinge in der Türkei gekommen.
Todesstrafe ist rote Linie
Die EU-Kommission prüft jedes Jahr Fortschritte oder Rückschritte bei den Beitrittsverhandlungen mit der Türkei. Im vergangenen Jahr musste sich Kommissionschef Jean-Claude Juncker harsche Kritik gefallen lassen, weil die Veröffentlichung auf sein Geheiß aus Rücksicht auf die türkischen Parlamentswahlen verschoben wurde.
In diesem Jahr übt sich die Kommission kaum in Zurückhaltung. Die scharfen Worte spiegeln auch die veränderte politische Lage wider. Viele in der EU sind der Meinung, dass die Abhängigkeit der Europäer von den Türken nicht mehr so stark sei wie noch vor einem Jahr. Damals versuchte die EU, die Türken für den Flüchtlingsdeal zu gewinnen. Inzwischen ist die Zahl der Flüchtlinge, die sich von der Türkei über Griechenland auf den Weg nach Deutschland machen, dramatisch gesunken, vor allem auch, weil die sogenannte Westbalkanroute de facto geschlossen ist.
Zudem könnte sich die Debatte über einen EU-Beitritt der Türkei womöglich ohnehin bald erledigt haben. Sollte das Land, wie von Präsident Erdogan mehrfach in Aussicht gestellt, tatsächlich die Todesstrafe wieder einführen, wäre für die EU die rote Linie erreicht. Dann könnte das Land nicht mehr EU-Mitglied werden.
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