EU-Kritik an der Türkei "Es bleiben große Mängel"

Türkei-Fahne: "Negativer Trend"
Foto: Burhan Ozbilici/ AP/dpaMit einigen Wochen Verspätung hat die EU-Kommission heute ihren jährlichen Fortschrittsbericht zur Türkei veröffentlicht. Der Vorwurf darin: Beeinträchtigung zentraler Menschen- und Grundrechte. "Es hat einen bedeutenden Rückgang im Bereich der Meinungs- und Versammlungsfreiheit gegeben", heißt es. Insgesamt gebe es "einen negativen Trend beim Respekt der Rechtsstaatlichkeit und grundlegender Rechte".
Zu spät kommt der Bericht, weil er eigentlich im Oktober hätte veröffentlicht werden müssen. Doch da in der Türkei am 1. November die Parlamentswahl anstand, hatte die EU die Veröffentlichung verschoben. Aus EU-Kreisen ist zu hören, dass es sich um eine bewusste politische Entscheidung gehandelt habe. Die AKP hat die Wahl deutlich gewonnen und verfügt über eine absolute Mehrheit im Parlament.
Erst jetzt also, neun Tage später, stellte die Kommission das Dokument im Außenausschuss des EU-Parlaments vor. Kritiker werfen Brüssel vor, damit die islamisch-konservative AKP von Präsident Recep Tayyip Erdogan unterstützt zu haben, um ein Entgegenkommen in der Flüchtlingspolitik zu erreichen. Die meisten Flüchtlinge aus Syrien und dem Irak, aber auch aus Afghanistan, Pakistan und afrikanischen Ländern kommen über die Türkei nach Europa. Ein von der EU entworfener Aktionsplan zielt darauf, die Grenzsicherung dort zu verstärken und die Flüchtlinge in der Türkei zu halten.
Die Vorsitzende der Grünen-Fraktion im EU-Parlament, Rebecca Harms, nannte es "unverantwortlich", dass der Bericht bis nach der Wahl zurückgehalten wurde. Einen "blinden Deal" unter dem Motto "Geld und Visa für die Türkei und dafür weniger Flüchtlinge für die EU" dürfe es nicht geben.
Beitrittsgespräche wieder aufnehmen
Der frühere Außenminister Joschka Fischer hingegen erklärte, eine enge Bindung an die Türkei sei "nicht nur wegen der Flüchtlinge alternativlos". Allerdings mache die innenpolitische Entwicklung der Türkei unter Erdogan eine solche Politik "alles andere als leicht", schreibt er in einem Gastbeitrag für die "Süddeutsche Zeitung".
Ähnlich äußerte sich Außenminister Frank-Walter Steinmeier. "Wir brauchen Verabredungen mit der Türkei, dass weniger Menschen völlig ungeordnet den kurzen Seeweg auf eine der griechischen Inseln finden", sagte er. "Ob uns die gegenwärtige innenpolitische Situation in der Türkei gefällt oder nicht, wir werden wirklich Verabredungen brauchen."
Der CSU-Europaabgeordnete Markus Ferber forderte nach Veröffentlichung des EU-Berichts eine "Neubewertung des gesamten Beitrittsprozesses", da die Türkei "nach wie vor in keinem einzigen Punkt die Beitrittskriterien erfüllt".
Die Türkei ist seit 1999 EU-Beitrittskandidat, die Verhandlungen darüber laufen seit Ende 2005, kamen aber in den vergangenen Jahren zum Erliegen. Bisher wurde erst eines von insgesamt 35 Verhandlungskapiteln zumindest vorläufig abgeschlossen. Die EU-Kommission will die Beitrittsgespräche nun so schnell wie möglich wieder aufnehmen. Bundeskanzlerin Angela Merkel sagte bei ihrem Besuch in Istanbul im Oktober die Eröffnung eines weiteren Kapitels zu und stellte dem Land einen "beschleunigten Visaprozess" sowie Geld für die Versorgung von Flüchtlingen in Aussicht.
Beschränkung der Medienfreiheit
Aus dem EU-Fortschrittsbericht geht hervor, dass der Schutz der Menschen- und Grundrechte in der Türkei sich zwar "in den vergangenen Jahren deutlich verbessert" hätten. "Es bleiben aber große Mängel." Die Türkei müsse insbesondere wirksam die Rechte von Frauen, Kindern, Homosexuellen garantieren und die soziale Einbindung von Minderheiten wie den Roma sicherstellen.
Fortschritten bei der Annäherung an die EU stünden Schritte gegenüber, die "gegen europäische Standards verstoßen", erklärte die EU-Kommission. Sie forderte die nach den jüngsten Neuwahlen gebildete Regierung auf, "diese dringenden Prioritäten anzugehen".
"Beträchtliche Besorgnis" äußert die EU-Kommission mit Blick auf die Pressefreiheit und verwies auf "laufende und neue Strafprozesse gegen Journalisten, Autoren oder Nutzer sozialer Medien, die Einschüchterung von Journalisten und Medienfirmen sowie das Vorgehen der Behörden bei der Beschränkung der Medienfreiheit". Auch die Änderung der Internet-Gesetzgebung sei "ein bedeutender Rückschritt".
Die jüngste Eskalation der Gewalt im Osten und Südosten des Landes, also die Gewalt zwischen den staatlichen Sicherheitskräften und der kurdischen Miliz PKK, habe darüber hinaus "zu ernster Besorgnis mit Blick auf Menschenrechtsverletzungen geführt". Die EU forderte Ankara auf, Verhältnismäßigkeit bei Anti-Terrormaßnahmen zu wahren.
Ausdrücklich lobt die EU-Kommission die Anstrengungen der Türkei bei der Aufnahme und Integration syrischer Flüchtlinge. Das Land solle aber Gesetze auf den Weg bringen, um Syrern Zugang zum Arbeitsmarkt zu erlauben.
Zusammengefasst : In ihrem jährlichen Fortschrittsbericht kritisiert die EU-Kommission die Türkei. In dem Land gebe es "einen negativen Trend beim Respekt der Rechtsstaatlichkeit und grundlegender Rechte", heißt es. Allerdings bemängeln Beobachter, der Bericht komme zu spät. Die Kommission habe absichtlich bis nach den Parlamentswahlen in der Türkei gewartet, so der Vorwurf, um sich ein Entgegenkommen von Präsident Recep Tayyip Erdogan in der Flüchtlingspolitik zu sichern.