
Türkei: "Drastische Verschärfung der Lage"
Festnahmen von Oppositionellen in der Türkei Schlag auf Schlag
Figen Yüksedag hat ihr Schicksal vorausgesehen. Im Sommer sagte die Co-Chefin der pro-kurdischen Oppositionspartei HDP, dass sie mit ihrer Festnahme rechne. "Das Erdogan-Regime wird uns verfolgen, sie wollen die Opposition beseitigen." Damals war gerade der Putsch in der Türkei gescheitert. Weil der Ausnahmezustand gelte, könne sie jederzeit verhaftet werden, so Yüksedag. Die Situation im Land sei dramatisch. "Was jetzt passiert, ist ein Coup gegen die Opposition."
Yüksedag sollte recht behalten: In der Nacht zum Freitag wurden sie, ihr Co-Parteichef Selahattin Demirtas und neun weitere HDP-Abgeordnete festgenommen. Haftbefehle gegen zwei weitere Politiker wurde nicht vollstreckt, die Gesuchten sind derzeit im Ausland.
Das Vorgehen zeigt einmal mehr, wie Erdogan den Staat innerhalb kürzester Zeit nach seinen Vorstellungen umformt.
Am Montag wurden 13 Journalisten der regierungskritischen Zeitung "Cumhuriyet" festgenommen, vergangene Woche die beiden Bürgermeister der überwiegend von Kurden bewohnten Großstadt Diyarbakir im Südosten der Türkei.
Nun hat es die HDP getroffen. Ein Video, das die Partei im Internet verbreitet hat, zeigt, wie die Polizei in die Wohnung von Yüksedag eindringt. Eine Männerstimme bittet die Polizisten, die versuchen, die Tür aufzubrechen, fünf Minuten zu warten - ein Anwalt sei auf dem Weg. Doch die Beamten machen weiter. "Was dringen Sie hier ein wie Banditen?", wirft ihnen Yüksedag an den Kopf. Ein Polizist verweist auf einen Beschluss der Staatsanwaltschaft. "Sie sind ein Bandit und Ihr Staatsanwalt auch!", entgegnet Yüksedag.
Video: Festnahme von Chefs der prokurdischen HDP
Erdogans Albtraum
Es ist noch gar nicht lange her, dass die HDP einen sensationellen Erfolg feierte: Am 7. Juni 2015 nahm sie mit 13,1 Prozent der Stimmen als erste pro-kurdische Partei die Zehn-Prozent-Hürde und zog in das türkische Parlament ein. Endlich hatten all die Unterdrückten, für die die HDP stand, eine parlamentarische Stimme.
Für Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan und seine AKP war es ein Albtraum. Die Regierungspartei verfehlte durch den Einzug der HDP die absolute Mehrheit und hatte somit nicht die Macht, die Verfassung im Alleingang zugunsten eines Präsidialsystems zu ändern. Immer mehr entpuppte die HDP sich als echte Opposition - und damit als Hindernis für Erdogan.
Eine Koalition kam nicht zustande. Erdogan löste das Parlament auf und setzte für den 1. November 2015, keine fünf Monate nach der zurückliegenden Abstimmung, erneut Wahlen an. Im Wahlkampf setzte er nun mehr als zuvor darauf, die HDP als politischen Arm der verbotenen kurdischen Arbeiterpartei PKK, die als Terrororganisation eingestuft ist, zu brandmarken - in der Hoffnung, dass sie den Einzug ins Parlament verpasse.
Doch der Plan ging nicht auf, die HDP erzielte immer noch 10,8 Prozent. Die AKP erzielte nun zwar die absolute Mehrheit, jedoch nicht die von Erdogan erhofften Zwei-Drittel-Mehrheit, um die Verfassung zu ändern.
Friedensgespräche? Sind längst Geschichte
"Seither sind wir kontinuierlich das Ziel von Angriffen Erdogans", sagte der HDP-Co-Chef Demirtas kürzlich in einem Telefonat. Im Mai dieses Jahres hob das türkische Parlament die Immunität von allen Abgeordneten auf, gegen die strafrechtlich ermittelt wurde. Es war ein gezielter Akt gegen die HDP, denn gegen nahezu sämtliche ihrer Abgeordneten liefen Verfahren wegen "Mitgliedschaft in einer Terrororganisation" oder wegen "Terrorpropaganda" - wegen angeblicher Nähe zur PKK.
Tatsächlich hat die PKK die Türkei zuletzt mit Terror überzogen, hat Sprengsätze gelegt und Autobomben platziert und dabei Polizisten und Soldaten, aber auch Zivilisten getötet. Die im Sommer 2013 begonnenen Friedensgespräche zwischen Regierung und PKK sind längst Geschichte. Die AKP wirft der PKK vor, sie mit dem Griff zu den Waffen beendet zu haben. Die PKK wiederum behauptet, die AKP habe sie von sich aus nach dem Wahlerfolg der HDP abgebrochen, weil Erdogan gemerkt habe, dass viele kurdische Wähler ihm die Verhandlungen nicht dankten.
Und die HDP? Sie hat sich offiziell immer von der PKK distanziert und dazu aufgerufen, die Waffen niederzulegen. Gleichzeitig haben aber einzelne HDP-Politiker gelegentlich Bemerkungen fallen lassen, die Erdogans Theorie vom politischen Arm der PKK befeuerten.
PKK droht mit neuer Gewalt
"Die Frage ist doch, ob es wirklich Terror ist oder ob das angesichts des diktatorischen Vorgehens Erdogans nicht ein berechtigter Widerstand ist", sagt ein PKK-Vertreter SPIEGEL ONLINE am Telefon. "Was sollen wir denn tun, wenn Zeitungen verboten, Kritiker eingesperrt und nun sogar gewählte und hoch respektierte Politiker einfach ins Gefängnis geworfen werden?"
"Erdogan will die Kurden ausradieren", sagt auch der Chef der syrischen Kurdenpartei PYD, Salih Muslim. Die Verhaftung der Abgeordneten sei erst der Anfang. "Er wird den Krieg so lange weiterführen, bis keiner von uns mehr übrig ist." Muslim fordert, die EU müsse eingreifen: "Bald schon könnte es zu spät sein."
In der PKK aber sieht man sich in der Strategie der Gewalt offensichtlich bestätigt. Am Freitagmorgen, wenige Stunden nach den Festnahmen der HDP-Politiker, explodierte in Diyarbakir ein Sprengsatz, ein Mensch wurde getötet, Dutzende verletzt.
Am Vormittag verbreitete sie im Internet einen Aufruf: "Es gibt nichts mehr zu sagen. Überall in Kurdistan und alle Kurden auf der Welt müssen gegen diese Angriffe aufstehen und protestieren." Der Bürgerkrieg, der seit über einem Jahr im Südosten der Türkei tobt, droht nun auf die ganze Türkei überzugreifen.
Zusammengefasst: Die türkische Regierung geht hart gegen Oppositionelle vor - nach den Journalisten von "Cumhuriyet" trifft es nun Politiker der pro-kurdischen Partei HDP. Diese haben sich als Stimme der Unterdrückten im Parlament profitiert und hindern Präsident Erdogan seit Längerem an seinen Plänen, die Verfassung zu ändern. Er rückt die HDP in Nähe von Terroristen und sieht sie als politischen Arm der verbotenen Arbeiterpartei PKK. Die HDP bestreitet das. Nach den Festnahmen droht die PKK - die immer wieder Anschläge verübt -, die Türkei mit Gewalt zu überziehen.