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Istanbul nach der Putsch-Nacht: Zerstörte Panzer, wehende Fahnen

Foto: BULENT KILIC/ AFP

Istanbul nach der Putsch-Nacht Verstörte Stadt

Diese Nacht hat Spuren hinterlassen in Istanbul: Die Bewohner der Millionenstadt versuchen, das Putsch-Chaos zu verarbeiten. Manche bemühen sich um Alltagsroutine, andere wittern eine Verschwörung des Staates.
Der schnelle Überblick

Das ist passiert:• Teile des türkischen Militärs haben versucht, gegen Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan zu putschen. Am Freitagabend erklärte das Militär, die Macht im Land übernommen zu haben. Inzwischen meldet die Regierung, der Putschversuch sei beendet.

• Laut Ministerpräsident Binali Yildirim kamen 265 Menschen ums Leben, darunter 104 Putschisten. 1440 Menschen wurden verletzt, mehr als 3000 Militärangehörige sollen festgenommen worden sein. Die Situation in Istanbul und Ankara ist noch immer unübersichtlich.

• Die türkische Regierung sieht in den Anhängern des in den USA lebenden Predigers Fethullah Gülen die Schuldigen. Gülen bestreitet, verantwortlich zu sein. Er gilt als Erzfeind Erdogans.

Die Männer vor dem Atatürk-Denkmal auf dem Taksim-Platz haben sich in türkische Flaggen gehüllt, aggressiv posieren sie vor dem prunkvollen Bauwerk, das an die Gründung der türkischen Republik 1923 erinnert. Doch diese Männer verteidigen keineswegs Atatürks kemalistisch-laizistisches Erbe - sondern den islamisch-konservativen Staatspräsidenten Recep Tayyip Erdogan. "Er hat uns eine Nachricht geschickt", brüllt ein Mann wütend, und hebt die Fahne hoch. "Und wir sind gekommen!"

Es ist der Tag nach dem Putsch. Stundenlang hatten sich Aufständische und Regierungsanhänger in der Nacht Gefechte geliefert. Und tatsächlich schickte die Regierungspartei AKP mitten in die gewaltsamen Ausschreitungen eine Nachricht an ihre Anhänger. Sie sollten auf die Straßen zu gehen, um auf "die Demokratie aufzupassen". Erdogan hatte das Volk um Hilfe gebeten, und das Volk gab ihm Rückendeckung.

Erdogan-Unterstützer auf dem Taksim-Platz

Erdogan-Unterstützer auf dem Taksim-Platz

Foto: ALKIS KONSTANTINIDIS/ REUTERS

Tausende Demonstranten waren in Istanbul und Ankara auf die Straßen geströmt, auf Panzer geklettert - und hatten sich so den Putschisten in den Weg gestellt. Sie versammelten sich, um die Armee in ihre Kasernen zu verweisen - und sie waren sehr erfolgreich. "Verlasst die Straßen nicht, bis wieder Normalität herrscht", legte Erdogan am Samstagvormittag noch einmal nach.

Natürlich ist die politische Situation immer noch unübersichtlich: Die türkischen Nachrichten berichteten weiter nonstop über Tote, Verletzte, Festnahmen und Gewalt - auf den Straßen Istanbuls dagegen ist es ruhig. Trotz Erdogans Aufforderung.

Zwar blieben viele Bürger lieber zu Hause, doch insgesamt kehrt schon wieder das normale Leben zurück. Auf der Einkaufsmeile Istiklal Caddesi, die vom Taksim-Platz wegführt, haben zahlreiche Geschäfte geöffnet. Dazu zählt etwa die Modekette Mango, die mit zwei Geschäften auf der Straße vertreten ist, und in der einige wenige Kunden an diesem Samstagnachmittag durch die Gänge laufen. Unternehmen wie H&M oder Zara hingegen haben ihre Rolläden heruntergelassen. Einheimische und Touristen flanieren vorbei.

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Türkei: Der Putschversuch in Bildern

Foto: Gokhan Tan/ Getty Images

Es könnte ein ganz gewöhnlicher Samstag sein, wären nicht so viele Polizisten unterwegs, und würde nicht die Stimme des Interimsarmeechef Ümit Dündar aus den Radios hallen: "Hand in Hand haben es Staat und Nation in historischer Solidarität geschafft, diesen Putsch zum Scheitern zu bringen", verkündete er. Dündar war eingesetzt worden, nachdem der eigentliche Generalstabschef für eine kurze Zeit von den Putschisten festgehalten wurde

Yasemin Gözcü kellnert heute in einem Restaurant auf der Istiklal-Straße. Zwar ist nur wenig Kundschaft da, doch ihr Chef habe darauf bestanden, dass der Laden geöffnet werde. "Das war doch kein richtiger Militärputsch", sagt die 37-jährige Istanbulerin, "das war doch ein schlechter Witz der Regierung, um uns Angst zu machen, und wieder an die Wahlurnen zu zwingen."

Theorien dieser Art verbreiten sich besonders über die sozialen Netzwerke. Der früher CHP-Oppositionschef Deniz Baykal bezeichnet den Umsturzversuch als Show und einen tragisch-komischen Coup, um ein Präsidialsystem mit weiteren Vollmachten für den Präsidenten zu erzwingen.

Eine Meinung, die auch Mahmut Bozkurt teilt. Der 62-Jährige sitzt auf einem Klappstuhl auf der Einkaufsstraße, er verkauft Kugelschreiber. "Für Erdogan bedeutet dieser Putsch doch noch einen weiteren Machtzuwachs", sagt er. "Jetzt kann er auch seine letzten starken Gegner aus dem Weg räumen."

Tatsächlich entsteht der Eindruck, ausgerechnet Erdogan habe als Demokrat die Demokratie verteidigt. Er ist der Held der Stunde. "Es ist unmöglich zu akzeptieren, dass türkische Soldaten ihre Gewehre auf das Volk richten. Auf deine Mutter, auf deinen Vater, auf deine Brüder und Schwestern. Diese Gewehre wurden ihnen vom Volk dieses Landes gegeben", sagte der Präsident. Jetzt sei es möglich, das Militär zu "reinigen", Tausende Armeeangehörige wurden mittlerweile festgenommen. Die Aufständischen müssten einen hohen Preis für ihre Taten bezahlen.

Am Ende könnten die dramatischen Szenen vom Freitagabend Erdogan tatsächlich stärken. Gab der Präsident nachts noch an einem geheimen Ort ein improvisiertes Interview, so präsentierte er sich am Samstag schon wieder betont staatsmännisch. "Wir werden diese Operation zu Ende bringen", so Erdogan. "Wir werden dagegen vorgehen, wie wir gegen Terrororganisationen vorgegangen sind."

Video: Erdogan über den Putschversuch

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