Türkisches Parlament Kniefall vor Erdogan

Das türkische Parlament hat die Immunität von 138 Abgeordneten aufgehoben. Damit hat es sich selbst kaltgestellt. Präsident Erdogan ist so mächtig wie nie.
Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan

Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan

Foto: ADEM ALTAN/ AFP

Bei der ersten Abstimmung am Dienstag, einer Art Probelauf, hatten schon 357 Abgeordnete von 550 für die Aufhebung der Immunität all jener Parlamentarier gestimmt, gegen die ein Ermittlungsverfahren läuft. Eine beeindruckende Mehrheit, aber nicht die nötige Zweidrittelmehrheit von 367 Stimmen, um die dazu nötige Verfassungsänderung durchzusetzen.

Am Freitagmittag stimmten nun sogar 373 Abgeordnete für das Vorhaben der Regierung. Das ist deutlich mehr, als die Regierungspartei AKP Stimmen hat, nämlich 317. Es votierten also auch Politiker der Oppositionsparteien, der kemalistischen CHP und der zerstrittenen nationalistischen MHP mit der AKP.

Damit ist die Immunität von insgesamt 138 Politikern aufgehoben, gegen die die Staatsanwaltschaft ermittelt. Vor allem betroffen sind Abgeordnete der prokurdischen linken HDP, nämlich 50 von 59. Nahezu die gesamte Fraktion könnte im Fall einer Verurteilung ihr Mandat nicht mehr wahrnehmen.

Den Abgeordneten wird unter anderem "Unterstützung einer terroristischen Organisation" oder gleich eine Mitgliedschaft vorgeworfen. Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan bezeichnet die HDP als politischen Arm der als Terrororganisation eingestuften kurdischen Arbeiterpartei PKK.

Auch wenn nicht nur Politiker der HDP ihren Schutz vor Strafverfolgung verlieren, richtet sich dieses Vorgehen gegen die Partei, die Erdogans Weg zu noch mehr Macht im Weg stand. Sie hatte einst selbst mit der CHP die Aufhebung der Immunität befürwortet, um Prozesse gegen AKP-Abgeordnete zu ermöglichen, denen Korruption vorgeworfen wird. Jetzt spricht HDP-Co-Chef Selahattin Demirtas von einer "Kriminalisierung" seiner Partei, von einem "Staatsstreich" und einem "diktatorischen Regime", dem die Tür geöffnet worden sei.

Den Betroffenen drohen Strafverfolgung und bei Verurteilung langjährige Haftstrafen.

Abstimmung im türkischen Parlament

Abstimmung im türkischen Parlament

Foto: ADEM ALTAN/ AFP

Die frei werdenden Sitze fallen nicht nachrückenden Kandidaten der HDP zu, sondern müssen gemäß Verfassung durch Nachwahlen neu besetzt werden. Die Chance, dass sie der AKP zufallen, ist groß. Das scheint das Kalkül der AKP und, allen voran, Erdogans gewesen zu sein. Denn seine Partei hätte dann möglicherweise die Zweidrittelmehrheit im Parlament und könnte im Alleingang die Verfassung ändern.

Genau das will Erdogan erreichen - und ein Präsidialsystem per Verfassung einführen, in dem er nicht nur repräsentative Aufgaben wahrnimmt, sondern regiert. Faktisch handhabt er es schon jetzt so und ließ gelegentlich die Bemerkung fallen, im Zweifel interessiere ihn die Verfassung nicht.

Die heutige Parlamentsentscheidung erspart Erdogan, eine Abstimmung des Volks per Referendum einholen zu müssen. Er ist in der Bevölkerung zwar beliebt - in Umfragen steht die AKP bei mehr als 50 Prozent, bei Kundgebungen wird Erdogan von seinen Fans verehrt wie ein Heiliger. Doch die Umwandlung der Türkei in ein Präsidialsystem ist umstritten.

Die Opposition wird zum Schweigen gebracht

Mit der gleichen Chuzpe hatte Erdogan die Alleinregierung der AKP im vergangenen Jahr durchgeboxt: Bei der Wahl im Juni 2015 hatte die Partei die absolute Mehrheit durch den Einzug der HDP ins Parlament verloren. Erdogan kündigte den Friedensprozess mit der PKK auf und begann einen Krieg im Südosten der Türkei, offiziell gegen die PKK, faktisch gegen die gesamte kurdische Bevölkerung. Eine Koalition kam nicht zustande, und Erdogan betonte, nur eine AKP-Alleinregierung könne für Sicherheit sorgen. Bei Neuwahlen im November 2015 erreichte er sein Ziel.

Ab jetzt können nun Staatsanwälte - und über sie Erdogan, der die Justiz in der Vergangenheit mehrfach unter Druck gesetzt und zu Entscheidungen in seinem Sinne gezwungen hat - bestimmen, wer sein Mandat im türkischen Parlament ausüben kann und wer nicht. Künftig genügt es, missliebigen Politkern ein Ermittlungsverfahren anzuhängen.

Was die AKP jetzt als Durchgreifen gegen straffällige Politiker verkauft, ist in Wahrheit eine Aushöhlung des Rechtsstaats mit dem einzigen Ziel, dass Erdogan noch mächtiger wird. Die Opposition gibt sich entweder gefügig oder wird zum Schweigen gebracht.

Auf die Türkei kommen dunkle Zeiten zu. Viele Kurden, die noch im vergangenen Sommer die Tatsache feierten, dass es der HDP als erster prokurdischen Partei gelungen war, die Zehnprozenthürde zu nehmen, dürften sich jetzt zurückgesetzt und diskriminiert fühlen. Ihnen wurde die politische Stimme genommen. Die Radikalisierung unter jungen Kurden dürfte weiter zunehmen, die PKK ihren Terror verstärken.

Am Ende stärkt der heutige Parlamentsbeschluss die PKK und all jene, die auf Gewalt, nicht auf politische Debatte und Kompromiss setzen.

Video: Bundesregierung besorgt über Entscheidung in Ankara

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