Verschärftes Internetgesetz Erdogan spielt Big Brother

Webseiten können schneller abgeriegelt werden, die Behörden dürfen Inhalte sperren - ohne dass ein Richter vorher zustimmen muss: Die Türkei verschärft die Kontrolle des Internets. Journalisten wittern Zensur, der Industrieverband protestiert, die EU ist besorgt.
Protest gegen Internetzensur in der Türkei (Archivbild): Neues Gesetz verabschiedet

Protest gegen Internetzensur in der Türkei (Archivbild): Neues Gesetz verabschiedet

Foto: MURAD SEZER/ REUTERS

Recep Tayyip Erdogan hasst Twitter und Facebook. Während der Gezi-Proteste im vergangenen Sommer bezeichnete der türkische Ministerpräsident die sozialen Medien als "Plage" und "Unruhestifter". Ihm passte nicht, dass Demonstranten die Netze nutzten, um ihre Proteste zu organisieren. Am liebsten hätte die Regierung die Seiten gesperrt.

Das dürfte aus juristischer Sicht nun leichter möglich sein: Das türkische Parlament hat ein Gesetz beschlossen, wonach die Regierung Internetseiten ohne vorherigen Gerichtsbeschluss sperren darf. Konkret darf der Kommunikationsminister selbst entscheiden, welche Inhalte nicht mehr zugänglich sein sollen. Die regierende AKP dominiert das Parlament mit 319 von 550 Sitzen.

Ziel sei, Persönlichkeitsrechte im Internet zu schützen und beleidigende Inhalte zu entfernen. So zumindest die offizielle Begründung. Dem Gesetzestext zufolge muss die Regierung nun nicht mehr bis zu 48 Stunden auf einen richterlichen Beschluss warten, sondern kann die Seite innerhalb von vier Stunden sperren. Die richterliche Überprüfung darf im Anschluss erfolgen.

Das Komitee zum Schutz von Journalisten (CPJ) kritisierte am Donnerstag, das Gesetz würde die Pressefreiheit in der Türkei noch weiter einschränken. Schon jetzt sei die Türkei das Land mit den meisten inhaftierten Journalisten weltweit. Der Vorstoß stelle "eine gefährliche Verschiebung im Mächtegleichgewicht dar zwischen der türkischen Regierung und jenen, die wahrhaftige Informationen von öffentlichem Interesse berichteten".

Auch der türkische Presserat ist empört. Es sei "kein Wunder, dass dieser Beschluss ausgerechnet jetzt kommt, zu einer Zeit, da es Ermittlungen gegen die Regierung wegen Bestechung gibt", sagte Pinar Türenc, Präsidentin des Presserats. Den Gesetzestext müsse man sich nun sehr genau ansehen. Offiziell dürfte künftig zwar keine einzige Seite aus politischen Gründen gesperrt werden, aber genau das vermuten die Journalistenverbände - Zensur unter dem Deckmantel des Persönlichkeitsschutzes.

Gefahr für fundamentale Rechte

Die türkische Regierung steckt seit der Festnahme von mehreren Verdächtigen, darunter Söhnen von Ministern, am 17. Dezember in einer Korruptionsaffäre. Erdogan tauschte am 25. Dezember sein halbes Kabinett aus, hält aber daran fest, dass es sich in Wahrheit um eine Verschwörung handelt. Er beschuldigt den in den USA lebenden islamischen Prediger Fethullah Gülen und sein mächtiges Netzwerk. Gülen war einst ein Verbündeter Erdogans - nun sind beide erbitterte Gegner in einem Machtkampf. Im Lauf der Affäre hat die Regierung Hunderte von Polizisten, Staatsanwälte und Richter strafversetzt oder beurlaubt.

Scharfe Kritik an dem Gesetz kommt auch von der Opposition und von Verbänden. "Wir sind jetzt noch mehr in der Dunkelheit", twitterte der CHP-Abgeordnete Müslim Sari. Der Wirtschafts- und Industrieverband Tüsiad teilte mit, der Schutz von Persönlichkeitsrechten sei bereits mit den gegebenen Gesetzen hinreichend möglich. Das neue Gesetz dagegen sei eine Gefahr für fundamentale Rechte. Es sei ein "Instrument, um das Internet zu kontrollieren".

Dem Gesetzestext zufolge darf auch der Surf-Verlauf über zwei Jahre gespeichert werden. Kritiker sehen darin einen Eingriff in den privaten Medienkonsum der Menschen. Offensichtlich wolle die Regierung die Bürger abschrecken, sich kritisch über sie im Internet zu äußern. Tüsiad ist zudem besorgt, das Gesetz könne Geldgeber abschrecken, in den digitalen Markt in der Türkei zu investieren. Bereits im Januar hatten Menschenrechts-, Presse- und Wirtschaftsverbände vor Internetzensur gewarnt.

Protest kommt aus der EU

EU und die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) missbilligten die neuen Befugnisse der Regierung. EU-Erweiterungskommissar Stefan Füle sprach von "ernsthafter Besorgnis" und forderte, das Gesetz müsse in Übereinstimmung mit EU-Standards neugefasst werden. Der OSZE zufolge bedeute das Gesetz, dass die Regierung "Kommunikationsdaten aller Internetnutzer ohne gesetzliche Einschränkungen sammeln" könne, und zwar ohne dass die Nutzer je erführen, welche Informationen und wie sie erhoben wurden.

Gefiltert wird das Internet in der Türkei bereits seit November 2011. Nutzer können selbstbestimmt zum Beispiel pornografische Inhalte sperren lassen. Allerdings hat die Regierung auch schon eigenmächtig Seiten geschlossen, zum Beispiel die Videoplattformen YouTube und Vimeo.

Vize-Premierminister Bülent Arinc wies die vielen kritischen Kommentare dagegen zurück. "Es gibt bei uns keine Internetzensur", erklärte er. "Im Vergleich zu vielen anderen Ländern sind wir freier und genießen Pressefreiheit."

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