

Erdogans Zittersieg Das Ende der türkischen Republik


Türkischer Präsident Recep Tayyip Erdogan
Foto: HUSEYIN ALDEMIR/ REUTERS
Türkischer Präsident Recep Tayyip Erdogan
Foto: HUSEYIN ALDEMIR/ REUTERSDie parlamentarische Demokratie in der Türkei hat fast hundert Jahre überdauert. Sie hat Staatsstreiche überstanden und Kriege. Nun ist sie doch untergegangen.
Die Menschen in der Türkei selbst haben sie beerdigt. Sie sind beim Referendum am Sonntag dem Drängen ihres Präsidenten Recep Tayyip Erdogan gefolgt und haben sich mit hauchdünner Mehrheit für die Einführung eines Präsidialsystems entschieden, das sämtliche Kompetenzen beim Staatschef bündelt.
Es handelt sich hierbei nicht nur um eine Verfassungsreform, wie die türkische Regierung behauptet, sondern um eine Revolution, einen Putsch von oben, der die Demokratie hinwegfegt und die Türkei in einen Ein-Mann-Staat verwandelt. Der 16. April wird in die Geschichte eingehen, als jener Tag, an dem die Republik Atatürks abgeschafft und durch den Staat Erdogan ersetzt wurde.
Die Auswirkungen dieser Entscheidung werden auch dann noch zu spüren sein, wenn Erdogan einmal nicht mehr im Amt ist.
Die Abstimmung hätte niemals stattfinden dürfen - jedenfalls nicht in einem Land, das für sich beansprucht, eine Demokratie zu sein und offiziell weiter der EU beitreten will. Die Bürger wurden dazu genötigt, über eine Verfassungsänderung zu entscheiden, während in der Türkei der Ausnahmezustand herrscht, während 40.000 Menschen im Gefängnis sitzen, darunter 150 Journalisten und die beiden Vorsitzenden der zweitgrößten Oppositionspartei, der prokurdischen HDP.
Erdogan hat den gesamten Staat für seine Kampagne eingespannt - Polizei, Justiz, Verwaltung. Laut einer Studie widmeten die 17 großen Fernsehanstalten in der Türkei der Regierung 90 Prozent der Sendezeit, der Opposition zehn Prozent. Trotzdem gewann das Ja-Lager nur mit weniger als zwei Prozentpunkten Abstand. In Istanbul, Ankara und Izmir, den drei größten Städten des Landes, lagen die Gegner des Präsidialsystems sogar vorne. Die Wahl wurde zudem begleitet von Manipulationsvorwürfen.
Dem türkischen Präsidenten dürfte das egal sein. Er wird das Ergebnis als Ermunterung verstehen, seine Autokratie auszubauen.
Die neue Verfassung stattet ihn mit Befugnissen aus, wie sie selbst Staatsgründer Mustafa Kemal Atatürk niemals hatte. Erdogan kann in dem neuen System das Parlament nach Belieben auflösen. Er ist von dem Gebot zu parteipolitischer Neutralität entbunden und darf von 15 Verfassungsrichtern zwölf selbst bestimmen. Das Amt des Premiers wird abgeschafft.
Die Probleme, die die Türkei plagen, werden mit dem Referendum vom Sonntag nicht verschwinden. Sie dürften sich, im Gegenteil, weiter verschärfen.
Die Türkei bräuchte das Gegenteil von Erdogan
Die Gesellschaft ist nach dem knappen Wahlausgang tief gespalten. Die Opposition spricht von Betrug und hat bereits angekündigt, das Ergebnis anzufechten. Der Vorstoß dürfte kaum Erfolg haben, doch er wird das Klima im Land weiter vergiften.
Die Türkei bräuchte in dieser Phase ihrer Geschichte einen Schlichter, einen Mann oder, noch besser, eine Frau, die die verschiedenen Gesellschaftsgruppen zusammenführt, die sich um Ausgleich bemüht und Spannungen abbaut. Das Land bräuchte, in anderen Worten, das Gegenteil von Erdogan.
Video: Regierung verkündet Sieg, Opposition zweifelt
Manche Politiker in Europa hoffen, Erdogan könnte nach dem Sieg vom Sonntag einen gemäßigteren Kurs verfolgen und auf seine Gegner zugehen. Sie verkennen, wie sehr die Politik des türkischen Präsidenten auf Polarisierung beruht.
Es mag sein, dass Erdogan in den kommenden Tagen einige symbolhafte Korrekturen unternimmt und etwa einzelne Gefangene aus der Haft entlässt. Aber an seinem Herrschaftsprinzip wird er nichts ändern. Erdogan setzt auf Spaltung, Ressentiments, Feindschaft. So regiert er die Türkei seit 15 Jahren. So wird er auch jetzt verfahren. In seiner Siegesrede am Sonntag kündigte er bereits an, die Wiedereinführung der Todesstrafe voranzutreiben.
Zwei Dinge müsste die EU jetzt tun
Die EU muss nun schnellstens eine Antwort auf den Demokratieverfall in der Türkei finden. Diese kann nicht sein, sich von dem Land abzuwenden, wie das nun einige fordern. Europa und die Türkei sind Partner in der Nato. Sie teilen eine jahrzehntelange Migrationsgeschichte, in Deutschland leben etwa drei Millionen Menschen türkischer Herkunft. Diese Verbindung kann nicht einfach so gekappt werden.
Europa sollte gegenüber Erdogan - erstens - mit der nötigen Härte auftreten. Die Türkei ist durch die Wirtschaftskrise auf den Handel mit Europa angewiesen. Die Bundesregierung sollte Erdogan zu verstehen geben, dass mit Hilfsgeldern aus Deutschland nicht zu rechnen ist, solange er die Demokratie in seinem Land missachtet. Auch in den Verhandlungen über eine Vertiefung der Zollunion hat die EU einen Hebel: Sie kann türkischen Unternehmen den Export von Waren und Dienstleistungen nach Europa erleichtern und im Gegenzug von der Regierung Zugeständnisse bei Menschenrechten einfordern.
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01.03.2021 11.32 Uhr
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Zugleich sollte sich die EU - zweitens - mehr als bisher um die türkische Zivilgesellschaft bemühen. Sie sollte in bilaterale Initiativen investieren - in Programme für NGOs, Gewerkschaften, Anwaltskammern. Journalisten und Akademiker, die in der Türkei verfolgt werden, sollten in Europa Zuflucht finden. Der Visumzwang für Türken, die in die EU einreisen wollen, sollte endlich aufgehoben werden
Etwas mehr als 51 Prozent haben wohl für den Staat Erdogan gestimmt, ja. Aber fast 49 Prozent waren dagegen. Sie verdienen Solidarität.
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Es ist offiziell: Die Wahlkommission hat das Ja-Lager zum Sieger des Referendums erklärt. Bereits zuvor beanspruchte Präsident Erdogan den Sieg für sich. Mit der nun beschlossenen Verfassungsänderung bekommt er deutlich mehr Macht.
Auch Ministerpräsident Yildirim sprach zu den Unterstützern der Verfassungsänderung. "Dies ist eine Entscheidung des Volkes. In der Geschichte unserer Demokratie ist eine neue Seite aufgeschlagen worden", sagte er in Ankara. Sein Amt wird es zukünftig in der Türkei nicht mehr geben.
Noch bevor das vorläufige offizielle Endergebnis verkündet wurde, versammelten sich landesweit Erdogan-Anhänger auf den Straßen.
In Istanbul feierten Erdogan-Unterstützer den Ausgang des Referendums. Die Mehrzahl der Wähler in der Metropole am Bosporus hat jedoch gegen die Einführung des Präsidialsystems gestimmt.
Mit Flagge und Bengalos: Die Wahlbeteiligung lag bei 85,6 Prozent. Bis zuletzt lieferten sich Befürworter und Gegner der Verfassungsänderung ein Kopf-an-Kopf-Rennen.
Autokorso in Berlin: Nach vorläufigen Ergebnissen stimmten 63,2 Prozent der in Deutschland lebenden Türken für die Verfassungsänderung. Nur 36,8 votierten mit Nein, meldet die staatliche Nachrichtenagentur Anadolu.
Auch in Ankara feierten Anhänger der Regierungspartei AKP das Ergebnis des Referendums. Erdogan kündigte an, die Wiedereinführung der Todesstrafe schnellstmöglich auf die Tagesordnung zu setzen.
Tränen bei der Opposition: Im Wahlkampf warnte die kemalistische CHP vor den möglichen Konsequenzen einer neuen Verfassung. Das Ergebnis des Referendums ist für viele ein Schock.
Heftige Niederlage: Bei einer Wahlparty der kemalistischen CHP in Berlin verfolgen Erdogan-Gegner die Berichterstattung der türkischen Medien. Die großen Oppositionsparteien CHP und HDP kündigten an, gegen das Ergebnis vorzugehen. Sie werfen der Regierung Wahlmanipulation vor.
Kemal Kilicdaroglu, der Chef der Oppositionspartei CHP, kündigte an, das Ergebnis nicht zu akzeptieren. "Dieses Referendum hat eine Wahrheit ans Licht gebracht: Mindestens 50 Prozent des Volkes haben Nein gesagt." Die CHP fordert eine Neuauszählung von zwei Dritteln der Stimmzettel.
Landesweite Proteste: In Ankara steht ein Erdogan-Gegner einer Polizeiblockade gegenüber. In Istanbul demonstrieren zahlreiche Erdogan-Gegner gegen das Ergebnis des Referendums.
Bis zuletzt prophezeiten Umfragen ein knappes Ergebnis - und sie sollten recht behalten: Fast die Hälfte der Türken hat gegen die Einführung des Präsidialsystems gestimmt. Landesweit gingen Erdogan-Gegner nach Bekanntgabe des Ergebnisses auf die Straße.
In Istanbul protestierten Menschen geräuschvoll gegen den Ausgang des Referendums. Sie schlugen Töpfe und Pfannen aneinander und machten ihrem Unmut Luft.
Mit der Abstimmung für die Einführung des Präsidialsystems bekommt Präsident Erdogan mehr Macht. Er erklärte, dass nicht alle Verfassungsänderungen sofort umgesetzt werden. Erst mit den Wahlen im November 2018 soll die neue Verfassung komplett durchgesetzt werden.
Ein Mitglied eines Wahlkomitees hält einen abgestempelten Stimmzettel in der Hand. Insgesamt waren rund 58,2 Millionen Wahlberechtigte zur Abstimmung aufgerufen: 55,3 Millionen in der Türkei und 2,9 Millionen im Ausland.
Der Staatspräsident selbst gab seine Stimme am Vormittag in einem Wahllokal in Istanbul ab. Dies sei "keine normale Abstimmung", sagte er. "Wir müssen eine Entscheidung treffen, die über das Gewöhnliche hinausgeht." Er hoffe, dass das Volk "wie erwartet" abstimmen werde.
In Istanbul jubeln Erdogan-Anhänger. Ministerpräsident Yildirim hatte in Ankara bereits den Sieg beansprucht - Stunden bevor das vorläufige offizielle Endergebnis von der Wahlkommission verkündet wurde.
AKP-Hochburg: In Konya feiern Erdogan-Anhänger den Sieg. Mehr als 70 Prozent der Wähler stimmten hier für die Verfassungsänderungen.
Wahlhelfer in Istanbul: Während der Auszählung entwickelte sich zwischen den Befürwortern von Erdogans Verfassungsreform und den Gegnern ein Kopf-an-Kopf-Rennen - so hatten es Umfragen im Vorfeld auch vorhergesagt.
Kemal Kilicdaroglu, Oppositionsführer und Parteivorsitzender der kemalistisch-sozialdemokratischen CHP, posiert vor einem Wahllokal in Ankara. Die Opposition hatte einen zutiefst unfairen Wahlkampf kritisiert, bei dem Erdogans AKP auf Staatsmittel zurückgegriffen habe.
Soldaten begleiten einen Wahlhelfer mit Abstimmungszetteln in der südöstlichen Stadt Diyarbakir - in der Stadt leben viele Kurden, die Mehrheit hat hier gegen die Verfassungsänderungen gestimmt.
Eine Frau in Erzincan im Osten der Türkei gibt ihre Stimme ab. Sie wurde auf einer Trage zur Wahlurne transportiert.
Die staatliche Nachrichtenagentur Anadolu berichtete, zwei Menschen seien bei einem Schusswechsel vor einem Wahllokal in der Provinz Diyarbakir im Südosten der Türkei getötet worden. Demnach habe es sich um einen Streit zwischen zwei Familien gehandelt. Der Streit sei über unterschiedliche politische Meinungen ausgebrochen. (Hier: Ein Mitglied eines Wahlkomitees hilft bei der Auszählung von Stimmzetteln.)
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