
Türkei vor dem Referendum: Ein Land stimmt ab
Referendum in der Türkei Not oder Übel
Zwei Kapitäne auf einem Schiff, das ist einer zu viel. Dieses Bild bemüht Binali Yildirim in diesen Tagen gerne, wenn er für das Präsidialsystem in der Türkei wirbt. Yildirim setzt sich damit für die Abschaffung eines Amtes ein, das er selbst innehat: das des Ministerpräsidenten.
Dass Yildirim das tun würde, war vorhersehbar - immerhin ist er ein treuer Gefolgsmann von Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan. Und da Erdogan seit dem Frühjahr 2014 offen für ein Präsidialsystem wirbt, in dem ein Ministerpräsident überflüssig ist, war klar, dass er nur jemanden zum Regierungschef macht, der seinen Plänen nicht im Wege steht.
Worum geht es am Sonntag?
Erdogan soll, wie Yildirim es formuliert, der alleinige Kapitän werden an Bord der Türkei. Deshalb sollen am Ostersonntag rund 55 Millionen türkische Staatsbürger über eine entsprechende Verfassungsänderung entscheiden. Das türkische Parlament hat dem bereits zugestimmt. Da dort jedoch eine zwei Drittelmehrheit nicht zustande kam, ist ein Votum der Wähler erforderlich. Die können nun also mit "Evet" (Ja) oder "Hayir" (Nein) abstimmen und entscheiden, ob die Türkei das von Erdogan gewünschte Präsidialsystem erhält.
Wie hoch war die Wahlbeteiligung in Deutschland?
Etwa 1,4 Millionen türkische Staatsbürger, die in Deutschland leben, waren ebenfalls wahlberechtigt. Sie durften ihre Stimme bereits vom 27. März bis zum 9. April in der türkischen Botschaft in Berlin sowie in den türkischen Konsulaten abgeben. Wer das nicht getan hat, hat noch am Ostersonntag die Möglichkeit, seinen Stimmzettel an der Grenze zur Türkei abzugeben. Die Wahlbeteiligung in Deutschland war rege: 48,7 Prozent der registrierten Wähler gaben ihre Stimmen in den diplomatischen Vertretungen ab, teilte die Wahlkommission mit. Das ist deutlich höher als bei den Parlamentswahlen im Jahr 2015. Die versiegelten Wahlurnen wurden jetzt nach Ankara geflogen und werden dort ausgezählt.

Türkei vor dem Referendum: Ein Land stimmt ab
Mit welchem Wahlausgang ist zu rechnen?
Ob "Ja" oder "Nein", ist ungewiss. Umfragen zeigen seit Wochen einen leichten Trend zugunsten der Gegner eines Präsidialsystems. Jedoch liegt in diesen Erhebungen das Lager der Neinsager so knapp vorne, dass belastbare Aussagen kaum möglich sind. Im Parlament hatten die AKP und die oppositionelle nationalistische MHP für eine Verfassungsänderung votiert. Allerdings sind gerade die Wähler der MHP eindeutig gegen das Präsidialsystem, wie Umfragen belegen. Das Ergebnis des Referendums dürfte noch am Sonntagabend bekannt werden. Die Wahllokale sind im Westen des Landes von 8 bis 17 Uhr geöffnet, im Osten des Landes von 7 bis 16 Uhr. Ab 19 Uhr dürfte es erste Informationen geben. Das amtliche Endergebnis wird wahrscheinlich vor Mitternacht feststehen.
Was beinhaltet das Präsidialsystem?
Stimmen die Wähler mehrheitlich für das Präsidialsystem, soll die türkische Verfassung in 18 Punkten geändert werden. Dem Präsidenten fällt demnach deutlich mehr Macht zu als bisher: Er ist dann Staats- und Regierungschef zugleich und darf, anders als bisher, einer Partei angehören und sie sogar führen. Das Amt des Ministerpräsidenten wird entsprechend abgeschafft, Parlament und Justiz werden deutlich geschwächt. Was das Präsidialsystem konkret bedeutet, lesen Sie ausführlich hier.
Was bedeutet die Abstimmung für die Zukunft der Türkei?
So oder so hat das Referendum erhebliche Auswirkungen auf die Türkei. Verliert Erdogan die Abstimmung, stimmen die Wähler also mehrheitlich für ein Nein, dürften chaotische Zeiten anbrechen - wie zuletzt nach den Parlamentswahlen im Juni 2015, als die AKP zwar als stärkste Kraft hervorging, aber die Mehrheit zur Alleinregierung verlor. Eine Koalition kam nicht zustande, Erdogan kündigte Neuwahlen an, steuerte das Land in Chaos und Gewalt und verkündete: Nur mit einer allein regierenden AKP würde das Land zu Stabilität und Ordnung zurückfinden. Der Plan ging auf, im November 2015 gewann die AKP wieder die absolute Mehrheit.
Mit ähnlichen Verhältnissen ist im Falle eines Neins zu rechnen: Erdogan dürfte sich für eine Ablehnung seines Planes rächen und Neuwahlen anstreben, nach denen es leichter werden sollte, eine Zweidrittelmehrheit im Parlament für das ersehnte Präsidialsystem zu bekommen. Eine Volksbefragung wäre dann verzichtbar.
Seit 2014 betont Erdogan regelmäßig, dass die Türkei nur mit einem Präsidialsystem eine große Zukunft habe. Den blutigen Putschversuch im Juli 2016 benutzt er, um den Menschen zu verdeutlichen, was droht, wenn er sich nicht durchsetzt.
Stimmen die Menschen mehrheitlich mit Ja, dürfte Erdogan fortan absolutistisch regieren. Möglicherweise würde er vorerst pragmatischer handeln, politische Gefangene freilassen und für eine Verbesserung der Beziehungen zum Westen sorgen. Die türkische Wirtschaft würde sich erholen, die Lira an Kaufkraft gewinnen. Doch es wäre eine oberflächliche Stabilität, nämlich die eines autokratischen Systems. So oder so drohen der Türkei schwierige Zeiten.

