Türkei seit dem Putsch Festnehmen, absetzen, mundtot machen

Nach dem gescheiterten Putsch geht die türkische Führung hart gegen mutmaßliche Putschisten, Kritiker und Kurden vor. Sie ignoriert dabei zunehmend rechtsstaatliche Grundsätze. Eine Chronologie.
Kundgebung in Istanbul im August

Kundgebung in Istanbul im August

Foto: Sedat Suna/ dpa

Seit einigen Monaten erlebt die Türkei eine "Säuberungswelle". Lesen Sie hier die Ereignisse im Überblick:

Mitte Juli: Unmittelbar nach dem gescheiterten Putsch vom 15. Juli lässt die Regierung Tausende Militärs festnehmen und Richter und Staatsanwälte absetzen. Ihnen wird eine Beteiligung an dem Umsturzversuch und Verbindungen zu dem Erzfeind von Präsident Erdogan, dem Prediger Fetullah Gülen, vorgeworfen. Innerhalb von zwei Tagen steigt die Zahl der Festnahmen nach Angaben des Justizministeriums auf 6000. Erdogan kündigt an, gnadenlos gegen Gülen-Anhänger vorzugehen: "In allen Behörden des Staats wird der Prozess der Säuberung von diesen Viren fortgesetzt. Denn dieser Körper, meine Brüder, hat Metastasen produziert. Leider haben sie wie ein Krebsvirus den ganzen Staat befallen."

Fethullah Gülen

Fethullah Gülen

Foto: THOMAS URBAIN/ AFP

20. Juli: Die türkische Führung verhängt nach dem Putsch einen dreimonatigen Ausnahmezustand. Sie kann nun per Dekret regieren. Grundrechte wie die Versammlungs- und die Pressefreiheit können ausgesetzt oder eingeschränkt werden, Behörden können Ausgangssperren verhängen und Medienberichterstattung kontrollieren oder verbieten. Der Ausnahmezustand wird später bis Januar 2017 verlängert.

27. Juli: Nach Angaben von CNN Türk  sind nach dem Putsch mehr als 80 Medien nach dem Putsch geschlossen worden, darunter 16 Fernseh- und 23 Radiostationen sowie 45 Zeitungen. In einer zweiten Welle Ende August werden weitere linke und prokurdische Medien dichtgemacht.

Erdogan am 7. August

Erdogan am 7. August

Foto: Kayhan Ozer/ AP

7. August: Bei einer Massenkundgebung gegen den Putschversuch in Istanbul stellt Erdogan erneut die Wiedereinführung der Todesstrafe in Aussicht. Sie war 2004 abgeschafft worden. "Wenn das Volk so eine Entscheidung trifft, dann, glaube ich, werden die politischen Parteien sich dieser Entscheidung fügen", so Erdogan. "So eine Entscheidung vom Parlament würde ich ratifizieren."

25. Oktober: Sicherheitskräfte nehmen die Oberbürgermeisterin der südosttürkischen Stadt Diyarbakir, Gültan Kisanak, und ihren Stellvertreter fest. Ihnen wird unter anderem Mitgliedschaft in der PKK vorgeworfen. Kisanak ist Mitglied der prokurdischen Partei der Völker (HDP) und gilt als eine der einflussreichsten kurdischen Politikerinnen des Landes. In mehreren kurdischen Städten kommt es nach den Festnahmen zu Ausschreitungen. Seit dem Putschversuch sind auch in kurdischen Gebieten etliche Menschen festgenommen worden. 24 Lokalverwaltungen unter HDP-Führung wurden unter Zwangsverwaltung gestellt.

29. Oktober: Präsident Erdogan kündigt an, dass die Regierung dem Parlament "bald" ein Gesetz über die Wiedereinführung der Todesstrafe vorlegen werde. Zudem erlässt die Führung ein Paket neuer Notstandsmaßnahmen: So werden die Rechte von inhaftierten Terrorverdächtigen beschränkt, 10.000 Angestellte im öffentlichen Dienst wegen angeblicher Verbindungen zu Gülen endgültig entlassen und weitere meist prokurdische Medien geschlossen. Insgesamt sind inzwischen mehr als 37.000 Menschen festgenommen und 100.000 Angestellte in Justiz und Verwaltung sowie Polizisten und Soldaten suspendiert oder entlassen worden. Außerdem wurden bislang mehr als 150 Medien verboten.

Demonstranten mit Ausgaben von "Cumhuriyet"

Demonstranten mit Ausgaben von "Cumhuriyet"

Foto: OZAN KOSE/ AFP

31. Oktober: 13 Redakteure der als letzte unabhängige Stimme der Türkei bezeichneten Tageszeitung "Cumhuriyet" werden festgenommen, darunter der derzeitige Chefredakteur Murat Sabuncu. Die Zeitung soll laut Staatsanwaltschaft Verbindungen zur verbotenen kurdischen Arbeiterpartei PKK und zur Gülen-Bewegung unterhalten und unmittelbar vor dem Putsch im Juli versucht haben, einen Umsturz zu rechtfertigen. Allerdings hatte "Cumhuriyet" den tatsächlichen Putschversuch verurteilt und in der Vergangenheit wiederholt kritisch über die Gülen-Bewegung berichtet. Schon seit einem Bericht vom Mai 2015 über mutmaßliche türkische Waffenlieferungen an islamistische Extremisten ist das Blatt im Visier der türkischen Staatsmacht. Zahlreiche Anhänger der Zeitung protestieren vor dem Redaktionsgebäude in Istanbul.

Yuksekdag (r.) und Demirtas

Yuksekdag (r.) und Demirtas

Foto: Sedat Suna/ dpa

4. November: Sicherheitskräfte nehmen elf Mitglieder der prokurdischen Partei HDP fest, darunter die beiden Parteivorsitzenden Selahattin Demirtas und Figen Yüksekdag. Bereits im Mai hatte die Regierung die Immunität einer Mehrheit der 59 HDP-Abgeordneten im türkischen Parlament aufheben lassen. Erdogan hält sie für ein Sprachrohr der verbotenen PKK.

Im Video: Ehemaliger SPIEGEL-ONLINE-Korrespondent in der Türkei Hasnain Kazim

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