
Flüchtlinge: "Syrische Städte" in der Türkei
Entwicklungshelferin in der Türkei "Syrische Flüchtlinge gehören dazu"
Deutsche Behörden ächzen schon jetzt unter den anhaltenden Flüchtlingsströmen aus Syrien, Afrika, Irak und den Balkanstaaten. Bundesinnenminister Thomas de Maizière hat die Prognose für dieses Jahr sogar noch einmal erhöht: Bis zu 800.000 Asylbewerber sollen 2015 nach Deutschland kommen - viermal so viele wie im vergangenen Jahr.
Doch das ist im Vergleich mit der Türkei noch immer wenig: Das Land nimmt weltweit die meisten Flüchtlinge auf: Rund 21 Flüchtlinge kommen dort auf 1000 Einwohner - in der Bundesrepublik sind es drei. Alleine rund zwei Millionen Syrer sind Schätzungen der Vereinten Nationen zufolge in das benachbarte Land geflüchtet . In der türkischen Stadt Kilis an der syrischen Grenze überstieg in dieser Woche erstmals die Zahl der Flüchtlinge die Einwohnerzahl.
Wie bewältigt die Türkei diese enormen Flüchtlingszahlen? Und wie gehen die Türken mit den Syrern um? Nesrin Semen arbeitet seit drei Jahren für das Welternährungsprogramm der Vereinten Nationen (WFP) in der türkisch-syrischen Grenzregion. In der Millionenstadt Gaziantep koordiniert die 32-Jährige die Ernährungshilfe für die syrischen Flüchtlinge, hilft in den Camps und steht auch einfach einmal den Menschen bei, die meist traumatisiert und hoffnungslos ankommen.
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SPIEGEL ONLINE: Frau Semen, in Deutschland werden Flüchtlingsheime angezündet, um Asylbewerber abzuschrecken. Schimpfen die Türken auch gegen Flüchtlinge?
Semen: Nein, die Menschen hier sind sehr gastfreundlich. Es beeindruckt mich immer wieder. Die türkische Bevölkerung nimmt die Flüchtlinge sehr herzlich auf und versucht, sie weitestgehend zu integrieren. Die meisten Städte haben sich inzwischen auf die Syrer eingestellt, sie gehören zum Stadtbild dazu. Teilweise gibt es Probleme mit der Sprache, aber an vielen Geschäften hängen sogar schon arabische Schriftzeichen, damit auch Syrer die Schilder lesen können.
SPIEGEL ONLINE: Die wirtschaftliche Situation der Türkei ist nicht gerade schlecht. Wieso sind Sie gerade dort im Einsatz?
Semen: Die Türkei ist zwar kein Dritte-Welt-Land, jedoch übersteigt die hohe Zahl der Flüchtlinge jegliche Kapazitäten, fast zwei Millionen Syrer haben hier Schutz gesucht. Viele von ihnen wohnen in Lagern von internationalen Hilfsorganisationen, in leerstehenden Geschäften oder Garagen. Ihre Schlafbereiche trennen sie nur mit Bettlaken voneinander ab. Die türkische Regierung hat die internationale Gemeinschaft um Hilfe gebeten, weil sie die Situation nicht mehr alleine bewältigen kann.
SPIEGEL ONLINE: Was tut die türkische Regierung?
Semen: Die Regierung zahlt Flüchtlingen rund 35 Lira pro Monat, das sind umgerechnet etwa elf Euro. Das ist selbst für türkische Verhältnisse sehr wenig Geld. Davon können die Migranten sich meist nicht einmal das Nötigste kaufen. Die meisten von ihnen haben auch keine Ersparnisse, weil sie im Bürgerkrieg alles verloren haben.
SPIEGEL ONLINE: Wie können Sie da helfen?
Semen: In den Regionen, in denen wir im Einsatz sind, vergeben wir sogenannte E-Cards . Das ist so etwas wie eine Kreditkarte, mit der die Flüchtlinge in bestimmten Läden bargeldlos Nahrungsmittel kaufen können. Jeder Flüchtling erhält von uns noch einmal umgerechnet 16 Euro zusätzlich zu dem Geld der Regierung. Wir schreiben ihnen nicht vor, was sie essen sollen, so können sie sich das kochen, was sie auch zu Hause gegessen haben. Außerdem unterstützen wir damit auch die einheimische Wirtschaft.
SPIEGEL ONLINE: Sie befinden sich in unmittelbarer Nähe zur syrischen Grenze - ist es dort gefährlich?
Semen: In Gaziantep, wo ich momentan bin, eher nicht. Davor war ich auch in Kobane im Einsatz, da waren wir näher dran und haben öfter Bomben und Luftangriffe gehört. So richtig Angst hatte ich aber bisher noch nicht. Normalerweise werden wir frühzeitig gewarnt, wenn die Situation heikel wird. In so einem Moment ist es mir wichtiger, den Menschen zu helfen, die noch viel schlimmere Dinge erlebt haben. Trotz der Erlebnisse wünschen sich die meisten Menschen aber, nach Hause zurückzukehren.
SPIEGEL ONLINE: Sie sind aber auch weg von zu Hause.
Semen: Das stimmt, und das ist nicht immer einfach. Natürlich ist meine Situation ganz anders - ich musste nicht flüchten und bin freiwillig hier. Aber ich kann es teilweise gut nachvollziehen, wenn die Flüchtlinge ihre Heimat vermissen, ihre Familie, ihre Freunde.