Türkei nach dem Putschversuch Entlassen, festnehmen, schikanieren

Recep Tayyip Erdogan
Foto: UMIT BEKTAS/ REUTERSDie Nacht vom 15. zum 16. Juli, der gescheiterte Versuch hoher Militärs, Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan und die türkische Regierung abzusetzen, hat das Land verändert.
Während Erdogan und seine Anhänger den niedergeschlagenen Coup als "Sieg der Demokratie" feiern, sprechen Kritiker von einem "zivilen Putsch" nach dem militärischen Putschversuch. Erdogan nutze die Gelegenheit, seine Macht auszubauen und Gegner handstreichartig loszuwerden.
Tatsächlich sprach Erdogan selbst von einem "Geschenk Gottes", das man dazu nutzen werde, die Türkei zu "säubern" und von "Terroristen" zu befreien. Die Rache der Regierung kann jeden treffen - diese Botschaft soll unmissverständlich sein.
In den vergangenen Tagen wurden echte oder vermeintliche Kritiker reihenweise aus dem Weg geräumt. Offiziell sind bislang knapp 68.000 Personen aus unterschiedlichen Ministerien und Behörden suspendiert oder entlassen. Aber auch Mitarbeiter von halbstaatlichen Unternehmen sind betroffen, Journalisten wurden festgenommen.
Eine Übersicht über die betroffenen Bereiche:

Panzer in Istanbul
Foto: Defne Karadeniz/ Getty ImagesMilitär
Die Streitkräfte gelten als Hauptverantwortliche für den gescheiterten Putsch. Erdogan hat das Militär schon immer argwöhnisch beäugt, da dessen Offiziere überwiegend als säkular gelten und dem Islamisierungskurs Erdogans und seiner Partei AKP kritisch gegenüberstanden. Die Bewegung des Predigers Fethullah Gülen, die zwar islamisch-konservativ ist, aber eine Trennung von Staat und Religion befürwortet, hat in den Reihen der Offiziere viele Anhänger. Ihr gibt die Erdogan-Regierung die Schuld für den Putsch.
Bislang wurde Haftbefehl gegen 6000 bis 10.000 Soldaten erlassen, darunter 128 Generäle und Admirale. Die "Säuberungs"-Aktionen betreffen mehr als ein Drittel der Spitze des Militärs. Für die Nachbesetzung fehlt passendes Personal.
Anführer der Putschisten soll der ehemalige Luftwaffenchef Akin Öztürk sein. Videos und Fotos von festgenommenen Militärs zeigen Männer mit Verletzungen im Gesicht und am Oberkörper. Amnesty International geht davon aus, dass viele von ihnen gefoltert wurden. Fotos, deren Ort und Zeit der Aufnahme nicht unabhängig geprüft werden können, zeigen Soldaten mit freiem Oberkörper und zum Teil nur in Unterwäsche in demütigender Haltung. Sie stammen wohl aus einer Reithalle neben Erdogans Palast, die zum Gefängnis umfunktioniert wurde.
In den kommenden Tagen, Wochen und Monaten dürften noch mehr Soldaten wegen angeblicher Beteiligung am Putschversuch festgenommen werden. Künftig wird das Militär mehr denn je eine Statistenrolle in der Türkei spielen, mit Erdogan-treuen Offizieren an der Spitze.

Soli-Demo für festgenommene Journalisten
Foto: Petros Karadjias/ APMedien
Im Zusammenhang mit dem Putschversuch wurden zunächst Haftbefehle gegen 42 Journalisten erlassen, darunter gegen Bülent Mumay, den früheren Chef des Internetauftritts der Tageszeitung "Hürriyet". Mumay hatte es gewagt, kritische Kommentare über die Regierungspolitik zu veröffentlichen. Auf Drängen der Regierung wurde er bereits im vergangenen Jahr entlassen, nun droht ihm Gefängnis. Was er und die anderen Journalisten mit dem Putschversuch oder der Gülen-Bewegung zu tun haben, ließ die Regierung offen.
Tatsächlich festgenommen wurden dem Vernehmen nach bislang ein gutes Dutzend, darunter die bekannte Journalistin Nazli Ilicak, die 2013 über die Verwicklung von Ministern in Korruption geschrieben hatte. Die meisten der 42 Journalisten werden noch gesucht. In den vergangenen Tagen wurden auch Webseiten gesperrt, Sendelizenzen gekündigt und ein Satiremagazin gestoppt. Am Mittwoch wurde bekannt, dass die Regierung 47 weitere Journalisten, Ex-Mitarbeiter der zwangsverwalteten Zeitung "Zaman", ebenfalls per Haftbefehl suchen lässt.
Journalisten in der Türkei haben es seit vielen Jahren schwer. Sie verlieren ihre Jobs oder werden sogar ins Gefängnis geworfen, wenn sie kritisch über die Mächtigen berichten. Auch internationale Journalisten geraten unter Druck, müssen um die Verlängerung ihrer Akkreditierung fürchten oder werden erst gar nicht ins Land gelassen.
Generell müssen Journalisten, die mit PKK-Mitgliedern, Anhängern der Gülen-Bewegung und anderen missliebigen Personen sprechen, damit rechnen, wegen "Unterstützung einer terroristischen Organisation" angeklagt zu werden. Anzeigen und Hetzkampagnen im Internet sind übliche Methoden, Journalisten einzuschüchtern.
Can Dündar, Chefredakteur der regierungskritischen Zeitung "Cumhuriyet", nennt die Türkei "das größte Gefängnis für Journalisten weltweit". Er wurde zusammen mit seinem Ankara-Büroleiter Erdem Gül zu einer mehrjährigen Haftstrafe verurteilt, weil er über Waffenlieferungen der Türkei an Extremisten in Syrien berichtet hatte.

College der Gülen-Bewegung
Foto: © Osman Orsal / Reuters/ REUTERSBildungssystem
In diesem Sektor gab es in den vergangenen Tagen die mit Abstand meisten Entlassungen. Mehr als 40.000 Menschen sind hier angeblich betroffen, Lehrer, Universitätsmitarbeiter, aber auch Beamte des Bildungsministeriums. Die Gülen-Bewegung hat Tausende Schulen im Land aufgebaut und Universitäten gefördert. Vor allem an diesen Einrichtungen sind die Mitarbeiter betroffen.
Insgesamt 1043 Privatschulen und 15 Universitäten wurden bislang geschlossen. 21.000 Lehrerinnen und Lehrer wurden entlassen. Die Hochschulbehörde berief 1577 Universitätsrektoren und Dekane ab. Ziel Erdogans ist offenbar eine Gleichschaltung zu einem ihm treuen Bildungssystem.
Das plötzliche Fehlen der Lehrkräfte dürfte schwere Folgen haben, zumal ohnehin schon Fachpädagogen fehlen. Erdogan selbst erklärte im ARD-Interview, die Entlassungen seien kein Problem - man werde "sehr schnell 20.000 bis 30.000 neue Lehrer einstellen".

Maschinen von Turkish Airlines
Foto: MURAD SEZER/ REUTERSWirtschaft
Die Regierung übt Druck auf Firmen aus und verlangt die Entlassung von Personal, das der Gülen-Bewegung nahesteht. Betroffen sind bislang staatliche beziehungsweise halbstaatliche Unternehmen, Beobachter rechnen jedoch damit, dass künftig auch private Unternehmen in Bedrängnis geraten werden.
Am Montag gab die Fluggesellschaft Turkish Airlines, die zu 49 Prozent dem Staat gehört, bekannt, 211 Mitarbeiter entlassen zu haben. Offiziell begründete sie dies mit dem Rückgang der Buchungen, aber auch mit "politischen Motiven", ohne dies näher auszuführen. Türkische Medien berichten jedoch, dass mehrere leitende Mitarbeiter der Airline Verbindungen zur Gülen-Bewegung gehabt hätten und deshalb von ihren Aufgaben entbunden worden seien.
Auch der türkische Telefonkonzern Türk Telekom teilte mit, er habe 198 Mitarbeiter entlassen. Dies sei "in Zusammenarbeit mit den nationalen Sicherheitskräften" geschehen. An Türk Telekom ist der türkische Staat mit 30 Prozent beteiligt.
Andere Bereiche
Der Staat greift durch gegen seine Feinde, das soll die Botschaft sein in einer Zeit, in der zunächst für mindestens drei Monate der Ausnahmezustand gilt. Deshalb ist letztlich kein Bereich sicher vor Entlassungen, Schließungen und "Säuberungen", wie Erdogan es selbst nennt.
Besonders stark ist die Justiz betroffen. Knapp 3000 Richter und Staatsanwälte haben ihre Jobs verloren. Die "Säuberungswelle", wie die Regierung es selbst nennt, erfasst aber auch Polizei und den Geheimdienst MIT. Ein Dutzend Gewerkschaften wurden geschlossen, ebenso medizinische Einrichtungen und mehr als 1000 Wohltätigkeitsorganisationen, weil ihnen Verbindungen zum Gülen-Netzwerk nachgesagt werden.
Auch die türkische Religionsbehörde Diyanet entließ mehr als 1000 Mitarbeiter, darunter Prediger und Koranlehrer. Das türkische Außenministerium teilte mit, es habe zwei Botschafter wegen mutmaßlicher Verbindungen zu den Putschisten entlassen. Mehrere Diplomaten stünden unter Verdacht, Gülen-Anhänger zu sein. Außenminister Mevlüt Cavusoglu kündigte an, er werde sein Ministerium "von diesen Verrätern säubern", die sein Haus "unterwandert" hätten.
Seit dem gescheiterten Putschversuch gilt in der Türkei ein Ausreiseverbot für Akademiker. Wer das Land verlassen will, braucht eine Sondergenehmigung. Damit soll verhindert werden, dass sich Regierungskritiker ins Ausland absetzen.