Putschversuch in der Türkei Das große Saubermachen

Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan nennt den gescheiterten Putsch ein "Geschenk Gottes". Er nutzt die Gelegenheit, viele Kritiker loszuwerden - und befeuert damit Verschwörungstheorien.
Tayyip Erdogan

Tayyip Erdogan

Foto: HUSEYIN ALDEMIR/ REUTERS

Normalerweise nennt Präsident Recep Tayyip Erdogan Demonstranten "Terroristen" oder "Straßendiebe". Jetzt fordert der türkische Staatschef die Menschen plötzlich auf, auf die Straße zu gehen und gegen die Putschisten zu protestieren. Und normalerweise ist kritische Berichterstattung für die türkische Regierung "Propaganda" und "Terrorunterstützung". Jetzt bedankt Premierminister Binali Yildirim sich bei der Presse, weil sie kritisch über den Putschversuch berichtet hat.

Der gescheiterte Versuch einiger Militärs, den Präsidenten und die Regierung in der Türkei zu stürzen, zeigt einmal mehr, wie die Mächtigen in der Türkei sich die Dinge so zusammenreimen, wie es ihnen in den Kram passt. Keinen halben Tag nach Beginn des Umsturzversuchs spricht Erdogan ganz offen darüber, wie er die politische Lage für sich nutzen will.

"Dieser Aufstand, diese Bewegung ist wie ein Geschenk Gottes", sagt er am Samstag bei seiner Ankunft am Istanbuler Atatürk-Flughafen. Denn der Putsch gebe ihm "die Gelegenheit, die Streitkräfte zu säubern". Jene, die sich an dem Coup beteiligt hätten, seien "Terroristen".

Video: Erdogan-Anhänger im Freudentaumel

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Wie durch ein Wunder präsentiert die Regierung gleich am Samstagvormittag die Zahl von 3000 festgenommenen Armeeangehörigen. Kritiker rechnen damit, Erdogan werde die Gunst der Stunde nutzen, gleich noch mehr Regierungsgegner zu bestrafen.

Und tatsächlich, ebenfalls noch am Samstag teilt die staatliche Nachrichtenagentur Anadolu mit, es seien 2745 Richter abgesetzt sowie fünf Mitglieder des Hohen Rats der Richter und Staatsanwälte in Ankara vom Dienst entbunden worden. Der türkische Privatfernsehsender NTV berichtete, der Verfassungsrichter Alparslan Altan sei verhaftet worden. Gründe dafür nannte der Sender nicht. Das Verfassungsgericht mit seinen 17 Richtern gilt als Gegengewicht zur islamisch-konservativen Regierung.

Unverhohlen ergreift Erdogan die Chance, unliebsame Kritiker loszuwerden. Es dürfte in naher Zukunft noch mehr Menschen treffen: Staatsanwälte, Politiker, womöglich auch Universitätsprofessoren, Lehrer und andere Beamte.

Es verwundert nicht, dass die Verschwörungstheorie, Erdogan habe den Putschversuch selbst inszeniert, um daraus gestärkt hervorzugehen, immer mehr Anhänger findet.

Der Plan vom "Vorschlaghammer"

Verschwörungstheorien sind beliebt in der Türkei. In der Vergangenheit wurden sie oft von der Regierung selbst bemüht, und die Bevölkerung nahm sie dankbar auf.

So wurde Offizieren mehrmals von Erdogan vorgeworfen, putschen zu wollen. Im Jahr 2003 hätten sie in einem "Balyoz" ("Vorschlaghammer") genannten Planspiel Chaos im ganzen Land anrichten wollen, mit dem Ziel, die Regierung zu entmachten.

Ein angeblicher Geheimbund namens "Ergenekon"

Noch größere Bekanntheit erlangte der "Ergenekon" genannte Geheimbund von Offizieren, die einen "tiefen Staat" gebildet hätten und ebenfalls den Sturz Erdogans planten. Berühmte Persönlichkeiten hätten ermordet werden sollen, und im Anschluss hätte das Militär die Regierung Erdogan abgesetzt, um die öffentliche Ordnung wiederherzustellen. 2007 wurden Hunderte Personen festgenommen, Militärs, aber auch Geschäftsleute, Akademiker und Politiker.

Im April 2016 hob das höchste Berufungsgericht Urteile gegen 275 Verdächtige wieder auf. Es gebe keine Beweise für eine Verschwörung. Notizen, illegal abgehörte Telefonate und manipulierte Beweismittel waren im Prozess verwendet worden, was erneut den Verdacht aufkeimen ließ, in Wahrheit habe Erdogan nur Kritiker beseitigen wollen.

Was die Lufthansa mit den Gezi-Protesten zu tun haben soll

Als im Mai 2013 die Gezi-Proteste in Istanbul ausbrachen und sich über das gesamte Land ausbreiteten, sprachen Erdogan und seine Leute wieder von einer Verschwörung. Das "Ausland" stecke dahinter, das der Türkei den wirtschaftlichen Aufstieg neide und das Land spalten wolle. Ein Berater Erdogans verstieg sich sogar zu der Behauptung, die Lufthansa habe die Unruhen angezettelt, um den Bau eines neuen Istanbuler Flughafens zu stören und damit den eigenen Frankfurter Flughafen zu schützen.

Nach jeder Wahl, nach jedem Terroranschlag machen Verschwörungstheorien die Runde, immer wird der Profiteur einer Situation verdächtigt, heimliche treibende Kraft hinter den Ereignissen zu sein. Viele türkische Medien verbreiten diese Theorien als Tatsachen.

Diesmal richtet sich der Verdacht der Verschwörung gegen Erdogan selbst, weil er von dem gescheiterten Coup profitiert. Nicht die mit Erdogan verfeindete Gülen-Bewegung stecke hinter dem Umsturzversuch, wie die türkische Regierung selbst behauptet, sondern Erdogan persönlich.

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Türkei: Der Putschversuch in Bildern

Foto: Gokhan Tan/ Getty Images

Grausame Bilder - aber stammen sie aus der Putsch-Nacht?

Der Ablauf des Putsches erscheine "seltsam", heißt es, er sei "sehr schnell gescheitert", und warum haben die Putschisten nicht Erdogan oder ein Regierungsmitglied festgesetzt? Wie könne es sein, dass Erdogan mit einem Fernsehsender telefonierte und sich an die Öffentlichkeit richtete? Werde Erdogan nun nicht Erfolg haben mit dem Begehren an die USA, seinen im US-Exil lebenden Erzfeind Fethullah Gülen an die Türkei auszuliefern?

Außerdem seien während des Putsches viele islamistisch geprägte Demonstranten unterwegs gewesen und hätten am Putsch beteiligte Soldaten getötet, indem sie ihnen die Kehlen durchschnitten. Tatsächlich kursieren grausame Fotos, deren Echtheit sich allerdings nicht überprüfen lässt.

Für die Verschwörungstheoretiker ist dennoch klar, dass es "keinen Zweifel an einer Inszenierung des Putsches" gebe, wie es in einem auf Facebook und Twitter verbreiteten Text heißt.

Richtig ist, dass Erdogan seine Macht dramatisch ausbauen wird. Er wird die Lage für Säuberungen nutzen. Beweise dafür, dass der Putschversuch von ihm oder der Regierung vorgetäuscht wurde, gibt es nicht.

Wahrscheinlicher ist, dass der Putsch am Ende doch dilettantisch geplant und umgesetzt wurde und dass Machtmensch Erdogan das für sich zu nutzen weiß. Davon gehen zum Beispiel auch deutsche Sicherheitsheitskreise aus.

Das allerdings würde offenlegen, in welch desolater Lage die Türkei sich befindet: ein Land mit einem autoritären, aber doch demokratisch gewählten Herrscher, das sich auf demokratischem Wege nicht mehr zu helfen weiß. Das einzuräumen wäre für die Verschwörungstheoretiker und Erdogan-Gegner eine Niederlage.

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