Türkei vor dem AKP-Parteitag "Erdogan ist verwundbar"

Recep Tayyip Erdogan wird am Sonntag wieder Parteichef der AKP, er muss seit dem Sieg beim Referendum keine Rücksicht mehr nehmen. Intellektuelle in der Türkei sehen den Präsidenten aber schon in der Spätphase.
Erdogan-Plakatwand

Erdogan-Plakatwand

Foto: Chris McGrath/ Getty Images

Er hat fast drei Jahre lang auf diesen Moment hingearbeitet. Nun, auf den letzten Metern, überlässt Präsident Recep Tayyip Erdogan nichts dem Zufall: Seine Partei AKP hat die Ankara-Arena gemietet, 1500 Busse bringen Regierungsanhänger in die türkische Hauptstadt. Die AKP inszeniert den Sonderparteitag am Sonntag als Krönungsmesse für Erdogan.

Die Verfassungsänderung erlaubt dem Präsidenten unter anderem die Mitgliedschaft in einer Partei. Jetzt soll das ganze Land dabei zusehen, wie Erdogan an die Spitze der AKP zurückkehrt. Doch diese Machtdemonstration kann kaum verbergen, dass die Legitimität des Präsidenten immer offener infrage gestellt wird.

"Erdogan spricht gerade einmal für die Hälfte der Bürger dieses Landes", sagt Yavuz Ekinci, ein türkisch-kurdischer Schriftsteller. Er wurde vor 38 Jahren in der Provinz Batman im Südosten geboren. Seine Jugend war geprägt von Gewalt. Türkische Soldaten brannten im Kampf gegen PKK-Rebellen Städte und Dörfer nieder. Kurdische Journalisten und Aktivisten wurden auf offener Straße erschossen. "Ich hatte geglaubt, die Brutalität würde irgendwann enden", sagt er. "Stattdessen hat sie sich auf das ganze Land ausgeweitet."

Yavuz Ekinci

Yavuz Ekinci

Foto: Emin Özmen/ DER SPIEGEL

Ekinci hat gerade sein siebtes Buch veröffentlicht: "Der Tag, an dem ein Mann vom Berg Amar kam". Es ist eine Dystopie, in der ein kurdisches Dorf darauf wartet, dass die Angreifer kommen, dass sie Häuser anzünden und Frauen vergewaltigen. Der Text liest sich wie eine Gegenwartsdiagnose der Türkei.

Türkische Intellektuelle, kritisiert Ekinci, hätten die Menschenrechtsverletzungen im Land ignoriert, solange die Opfer Kurden gewesen seien. Nun aber seien sämtliche Gesellschaftsgruppen von Erdogans Despotismus betroffen: Kurden, Säkulare, Linke, Anhänger der islamistischen Gülen-Bewegung. Vielleicht, so hofft Ekinci, könnten sich die Türken angesichts der existenziellen Bedrohung durch das Regime nun zusammenschließen.

Viele türkische Intellektuelle denken so wie er: Sie haben Angst vor weiteren Repressionen und dennoch Hoffnung, dass die Diktatur noch aufzuhalten ist.

Der Unmut ist offensichtlich, wenn man durch Istanbul geht. In der Bagdat Caddesi, einer Einkaufsstraße auf der asiatischen Seite der Stadt, sind die Häuserwände mit Graffitis bemalt: "Nein zum Präsidialsystem!"

Levent Üzümcü läuft daran vorbei. Er sagt: "Erdogan hat das Referendum gewonnen, aber die Kontrolle über das Land verloren." Üzümcü ist 44 Jahre alt, er trägt Jeans und Sonnenbrille. Er war einer der erfolgreichsten Schauspieler der Türkei, spielte in Fernsehserien und 20 Jahre lang am Staatstheater in Istanbul. Auf Twitter folgen ihm über vier Millionen Menschen.

Levent Üzümcü

Levent Üzümcü

Foto: Emin Özmen/ DER SPIEGEL

Während der Gezi-Proteste wandte sich Üzümcü gegen Erdogan. "Ich möchte nicht, dass ein einzelner Mann darüber entscheidet, wie 70 Millionen Menschen zu leben haben", sagte er da. Seither ist Üzümcü ein Geächteter, er hat seine Stelle am Staatstheater verloren. Fernsehsender schrecken davor zurück, Rollen mit ihm zu besetzen.

Viele Kollegen teilten seine Kritik, erzählt Üzümcü. Doch keiner habe es bislang gewagt, offen für ihn Partei zu ergreifen.

Üzümcü lässt sich nicht einschüchtern. Er schreibt Theaterstücke, dreht Filme, tritt in Off-Theatern auf. Mit seinen Texten, die er über soziale Medien verbreitet, erreicht er nach wie vor ein Millionenpublikum.

Erdogan hat den Intellektuellen den Kampf erklärt

Üzümcü fühlt sich durch das knappe Ergebnis beim Referendum bestätigt. "Erdogan ist verwundbar", sagt er. Üzümcü setzt nun auf den Widerstand der Zivilgesellschaft. Die Menschen sehnten sich nach einer Kraft, die die Gesellschaft eint, glaubt er.

Erdogan hat der geistigen Elite des Landes den Krieg erklärt. "Ihr, die sogenannten Intellektuellen, ihr seid die Dunkelheit selbst", sagte er in einer Rede. Mehr als 8000 Professoren und Hochschulangestellte haben seit dem Putschversuch ihren Job verloren.

Einer, der noch da ist, ist Murat Belge, Professor für Literatur, 1943 geboren, seit Jahrzehnten prägt er das geistige Leben in der Türkei. Er hat den Verlag Iletiim Yaynlar mitgegründet, der auch die Werke von Nobelpreisträger Orhan Pamuk herausgibt.

Belge blickt durch das Fenster seines Büros auf den Campus der Bilgi-Universität in Istanbul, schüttelt den Kopf und sagt: "Der Fall Erdogan erinnert mich an die Tragödien von Shakespeare."

Wie viele liberale Intellektuelle hat Belge den Sieg von Erdogans AKP bei der Parlamentswahl 2002 zunächst begrüßt. Er hoffte, dass Erdogan mit der jahrzehntelangen Kontrolle durch das Militär brechen und das Land demokratisieren würde.

Von 2013 an hatte Belge die Regierung in der Kurdenpolitik beraten, doch nach dem brutalen Vorgehen der Polizei gegen die Gezi-Demonstranten wandte er sich von der AKP ab. Erdogan habe die Menschen einst durch das Versprechen auf Freiheit und Demokratie begeistert, sagt Belge. Inzwischen regiere er durch Angst.

Die Repressionen hätten dazu geführt, dass Kollegen sich selbst zensierten oder die Türkei verließen. Doch sie hätten auch eine Gegenbewegung entstehen lassen. An vielen Hochschulen solidarisierten sich die Studenten mit ihren entlassenen Professoren, besetzten Hörsäle, hielten öffentliche Seminare ab.

Seit die AKP regiert, hat sich die Zahl der Universitäten fast verdoppelt - diese Studenten sind es nun, die sich gegen Erdogans diktatorische Bestrebungen wehren. 58 Prozent der Erstwähler stimmten laut einer Umfrage mit Nein - und zwei Drittel der Hochschulabsolventen.

Auch die Schriftstellerin Oya Baydar glaubt, dass sich gerade etwas tut im Land. "Wir erleben die Spätphase der Regierung Erdogan", sagt sie. "Aber niemand weiß, wie lange diese Phase dauern wird."

Oya Baydar

Oya Baydar

Foto: Emin Özmen/ DER SPIEGEL

Baydar ist 76 Jahre alt und gilt als eine der wichtigsten Schriftstellerinnen der Türkei. Ihre Bücher werden nicht nur von der säkularen Istanbuler Elite gelesen, sondern ebenso von konservativen Frauen aus Anatolien.

"Schlimmer als in den Achtziger- und Neunzigerjahren"

Als junge Frau hat Baydar die sozialistische Arbeiterpartei mitgegründet. 1980 flüchtete sie vor dem Militärregime nach Deutschland, erst Jahre später kehrte sie zurück. Sie hat Regierungen kommen und gehen sehen, nur die Gewalt, sagt sie, sei konstant geblieben: Autoritarismus und Chauvinismus prägten die politische Kultur seit der Gründung des Staats durch den Soldaten Mustafa Kemal Atatürk.

Heute seien die Zustände schlimmer als in den Achtziger- und Neunzigerjahren: "Bei den Generälen wussten wir zumindest, woran wir sind. Erdogan herrscht dagegen völlig willkürlich."

Ende Oktober wurde ihr Ehemann Aydn Engin festgenommen, langjähriger Kolumnist der Erdogan-kritischen Tageszeitung "Cumhuriyet". Er kam rasch wieder frei, aus Altersgründen, doch insgesamt sitzen rund 120 Journalisten im Gefängnis.

Die Demokratie, davon ist Baydar überzeugt, lasse sich nicht dauerhaft unterdrücken. Unter Erdogan sei eine Mittelschicht entstanden, konservativ zwar, aber doch mehr interessiert an westlichen Fernsehserien als an religiösem Fanatismus. Sie reise nach Europa oder in die USA, sie wisse die Freiheit dort zu schätzen. Und sie nutze die sozialen Medien.

Die Generation Erdogan, sagt Baydar, habe kein Interesse, in einem Land zu leben, das von der Außenwelt abgekoppelt sei und dessen Wirtschaft stagniere. Sie werde deshalb früher oder später gegen den türkischen Patriarchen aufbegehren.

Videonanalyse: "Es geht Erdogan um eine Machtdemonstration!"

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Zusammengefasst: Präsident Erdogan kehrt an die Spitze der Regierungspartei AKP zurück. Er hat das Referendum in der Türkei zwar gewonnen, aber dennoch wächst unter den Intellektuellen die Wut und der Mut zum Widerstand. Vor allem Schriftsteller und Studenten wollen den Kampf gegen eine drohende Diktatur in ihrem Land nicht aufgeben. Sie hoffen, dass es über kurz oder lang einen Aufstand gibt.

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