
Wahlkampf in der Türkei Die Front gegen Erdogan wächst
- • Vorgezogene Neuwahlen: Erdogan überrumpelt die Türkei
- • Türkische Wirtschaft: Mehr Angst vor dem Abschwung als vor Terror
Seine Fans nennen ihn "Imperator": Ibrahim Tatlises hat nie eine weiterführende Schule besucht, aber er hat als Schlagerstar in der Türkei Millionen verdient. Er überlebte Mordanschläge, saß wegen Beamtenbeleidigung im Gefängnis, eröffnete Restaurants, Hotels, eine Baufirma.
Nun strebt Tatlises eine Karriere in der Politik an - und will bei den Neuwahlen am 24. Juni für die Regierungspartei AKP ins Parlament einziehen. Beim Wahlkampfauftakt in Izmir holte Recep Tayyip Erdogan den Sänger auf die Bühne. Der Präsident erhofft sich von Tatlises' Kandidatur offensichtlich einen Schub für seine Kampagne, die bislang noch nicht so richtig Fahrt aufgenommen hat.
In der Türkei galt in den vergangenen 16 Jahren ein ungeschriebenes Gesetz: Die Bürger wählen und am Ende gewinnt Erdogan. Diesmal ist der Ausgang überraschend offen. Zwar hat Erdogan die Opposition durch seine Entscheidung, die Parlaments- und Präsidentschaftswahlen um fast eineinhalb Jahre vorzuziehen, überrumpelt. Doch echten Nutzen hat er aus dem Vorsprung bisher nicht gezogen.
Der Präsident wirkt erschöpft
Bei den Kundgebungen der AKP stellt sich unter den Zuschauern keine rechte Euphorie ein. Der Präsident selbst wirkt erschöpft. "Früher griff Erdogan an und gab bissige Erklärungen ab, jetzt muss er die heftigen Attacken der Opposition auf dem eigenen Platz parieren", analysiert der Online-Chef der "Cumhuriyet", Bülent Mumay. "Früher liefen die Parteitage der AKP in der Atmosphäre eines Galadiners ab, jetzt sieht man den Blutdruck deutlich fallen."
Erdogan hat mit schlechten Wirtschaftszahlen zu kämpfen. Zwar ist das Bruttoinlandsprodukt in der Türkei im vergangenen Jahr noch um 7,4 Prozent gewachsen, stärker als in fast jedem anderen Industrieland, aber das Wachstum war teuer erkauft: Erdogan hat Milliarden in die türkische Wirtschaft gepumpt, wodurch die Inflation auf über zehn Prozent angestiegen ist. Die Lira ist im Vergleich zum Euro so schwach wie nie zuvor. Jedes vierte Bürogebäude in der Türkei steht leer.
Die Regierung stellt die Währungskrise als Verschwörung fremder Mächte dar: "Obwohl wir die größten Zahlen in der Wirtschaft erringen konnten, marschiert wieder die Front des Bösen", sagt Erdogan. Doch die Menschen in der Türkei scheinen immer weniger bereit, diese Erklärung zu glauben. In einer Umfrage nannte noch im Januar ein Drittel der Türken den Terror als größtes Problem des Landes. Dieser Wert ist inzwischen auf 18 Prozent gefallen. Die Hälfte der Bürger betrachtet jetzt die Wirtschaft als wichtigstes Thema.
Erdogans Erfolg basierte oft auch auf der Schwäche seiner Konkurrenten. Die Oppositionsparteien waren zerstritten und schickten meist profillose Politiker ins Rennen. Vor der Abstimmung am 24. Juni hat sich die Opposition aber offensichtlich berappelt.
Muharrem Ince, der Kandidat der Republikanischen Volkspartei (CHP), hat bislang mehr richtig als falsch gemacht. Er hat Selahattin Demirtas, den Bewerber der linken, pro-kurdischen HDP, im Gefängnis besucht und versprochen, den gewaltigen Präsidentenpalast in Ankara in eine Universität zu verwandeln, sollte er die Wahl gewinnen.
Mit der Vorsitzenden der neu gegründeten, nationalistischen Iyi-Partei, Meral Aksener, bekommt Erdogan zudem erstmals Konkurrenz im rechten Lager. CHP, Iyi-Partei und die islamistische Splitterpartei Saadet haben eine Allianz geschmiedet. "Es hat 16 Jahre gedauert", sagt Aaron Stein vom Thinktank "American Council". "Aber der Anti-Erdogan-Block hat eine kohärente Strategie für den 24. Juni."
Erdogan hat weitreichende Vorkehrungen getroffen, um aus der Abstimmung als Sieger hervorzugehen
Die Frage ist, ob das Stimmungshoch im Oppositionslager ausreicht für einen Machtwechsel. Erdogan ist nach wie vor der populärste Politiker der Türkei. Er hat weitreichende Vorkehrungen getroffen, um auch aus der Abstimmung im Juni als Sieger hervorzugehen. Seine Regierung verlängerte, bereits zum siebten Mal, den Ausnahmezustand, der seit dem gescheiterten Putschversuch vom 15. Juli 2016 besteht, was Oppositionellen den Wahlkampf erschwert.
Die Medien, die sich spätestens seit dem Verkauf der Dogan-Gruppe an einen Erdogan-Vertrauten beinahe vollständig unter Kontrolle der Regierung befinden, schweigen die Oppositionsparteien tot. Erdogan-Gegner fürchten zudem, dass es bei der Wahl selbst zu Manipulationen kommen könnte, da die Regierung in diesem Jahr auch Wahlzettel ohne offiziellen Stempel anerkennen und unabhängigen Beobachtern den Zugang zu den Wahllokalen teilweise verwehren will.
Die Umfragen deuten darauf hin, dass Erdogan zwar die Präsidentschaftswahl gewinnt, seine Partei jedoch die absolute Mehrheit im Parlament verfehlt. Die Türkei fände sich in einer Blockadesituation wieder, da das neue Präsidialsystem auf eindeutige Mehrheitsverhältnisse ausgerichtet ist. Erdogan hat in einem Interview mit "Bloomberg" bereits angekündigt, in diesem Fall, "nötige Schritte" einzuleiten. Beobachter rechnen damit, dass er die Wähler ein weiteres Mal an die Urne bitten könnte.
So könnte er das gewünschte Ergebnis erzwingen.
Zusammengefasst: Recep Tayyip Erdogan ist und bleibt der beliebteste Politiker der Türkei - doch so unantastbar wie einst wirkt er nicht mehr. Vor der Wahl im Juni formieren sich die Gegner, schmieden Allianzen. Es wäre gut möglich, dass die Präsidentenpartei ihre absolute Mehrheit verliert.
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Recep Tayyip Erdogan mit dem Sänger Ibrahim Tatlises: Dieser ist in der Türkei sehr beliebt - und will bei den Neuwahlen am 24. Juni für die Regierungspartei AKP ins Parlament einziehen. Denn der Präsident steht unter Druck.
Mit der Vorsitzenden der neu gegründeten, nationalistischen Iyi-Partei, Meral Aksener, bekommt Erdogan zudem erstmals Konkurrenz im rechten Lager. Und bei der Motivation der eigenen Anhänger tut sich Erdogan zunehmend schwer.
Aksener hat sich mit anderen Parteien zusammengetan (hier mit Saadet-Chef Temel Karamollaoglu), sie bilden eine Art Anti-Erdogan-Block.
Ansatz für Kritik hätte die Opposition durchaus: Erdogan hat Milliarden in die türkische Wirtschaft gepumpt (hier die Baustelle des neuen Großflughafens in Istanbul), wodurch die Inflation auf über zehn Prozent angestiegen ist. Die Lira ist im Vergleich zum Euro so schwach wie nie zuvor. Jedes vierte Bürogebäude in der Türkei steht leer.
Der Präsidentenpalast: Ein Zeichen für die Macht des Amtsinhabers. Ein Konkurrent aus der Opposition hat zugesagt, das Mega-Bauwerk nach einem Wahlsieg in eine Universität verwandeln zu wollen.
Und dann kam die AKP: Die Grafik zeigt deutlich, dass sich die ausländischen Direktinvestitionen in der Türkei nach dem ersten Wahlsieg der AKP 2002 nach einem anderen Muster als zuvor entwickelten. Allerdings sind sie inzwischen auch wieder weit entfernt von ihrem Allzeithoch von 22 Milliarden Dollar: Zuletzt haben der Putsch und das harsche Vorgehen von Präsident Erdogan gegen seine Kritiker Investoren verschreckt.
Aufholjagd: Die Türkei hat ihre Wirtschaftskraft in den vergangenen Jahren verdreifacht. Pro Kopf gerechnet vergrößerte sich zuletzt allerdings der Abstand zu Industrienationen wie Deutschland wieder.
Einer der Gründe für die Popularität der AKP-Regierungen bei vielen Bürgern und Investoren: In ihre Amtszeiten fällt die drastische Reduzierung der früher chronisch hohen Inflationsraten in der Türkei. Eine niedrige Preissteigerung ist wichtig, damit Firmen und Bürger Planungssicherheit haben. Allerdings hat die Zentralbank zuletzt einen ungewöhnlich starken Anstieg der Inflation zugelassen, auf rund 12 Prozent. Eigentlich hat sie verkündet, eine Zielmarke von lediglich fünf Prozent zu verfolgen.
Reiseland Türkei: Binnen weniger Jahre hat sich die Zahl der Türkeitouristen verdreifacht. Nach einem schweren Einbruch - 2016 wurde die Türkei von schweren Bombenanschlägen und dem Putsch erschüttert - erholen sich die Urlauberzahlen wieder. Im kommenden Jahr will die Türkei wieder mehr als 30 Milliarden Dollar mit dem Tourismus verdienen.
Made in Turkey: Die Produktion von Fahrzeugen in der Türkei hat sich verdreifacht. Dazu trägt auch Daimler bei, der Konzern produziert in der Türkei Lkw. Nur 15 Prozent davon gehen an türkische Abnehmer, der Rest ins Ausland. Die Türkei ist für viele westliche Firmen ein Sprungbrett auf die Märkte des Nahen Ostens.
Die Türkei profitiert auch von einer positiven demografischen Entwicklung. Seit 1960 hat sich die Bevölkerungszahl fast verdreifacht.
Das Bevölkerungswachstum rührt nicht nur von einer hohen Geburtenrate. Auch die Lebenserwartung steigt. Starben Türken einst im Schnitt fast 20 Jahre früher als Menschen in Griechenland, beträgt der Abstand heute nur noch rund sechs Jahre.
Obwohl die türkische Wirtschaft seit Jahren wächst - und Millionen neue Jobs geschaffen hat - konnte die Regierung die Arbeitslosenquote nicht dauerhaft senken. Im Gegenteil: Weil immer mehr junge Menschen auf den Arbeitsmarkt drängen, liegt sie heute sogar höher als zu Beginn der AKP-Ära.
Unerwarteter Erfolgsfaktor: Allgemein wird eine starke Wirtschaft auch mit einer stabilen Währung assoziiert. Die türkische Lira hingegen hat über die Jahre massiv abgewertet - und verliert gegenüber Dollar und Euro weiter an Wert. Den türkischen Exporteuren kommt das allerdings durchaus entgegen: Ihre Produktionskosten in der Türkei sind geringer - bei gleichbleibenden Erträgen in Europa.
Doch den türkischen Boom trägt mehr als nur die Reisebranche: Firmen in verschiedenen Sektoren sind in den vergangenen Jahren zu internationaler Wettbewerbsfähigkeit gereift. Unter den Top 100 der größten Baufirmen der Welt finden sich sieben aus der Türkei. Der Haushaltsgerätehersteller Arcelik unterhält 14 Fabriken, die Hälfte davon im Ausland - und hat vor einigen Jahren die deutsche Traditionsmarke Grundig geschluckt. Ein Indikator für die Entwicklung der türkischen Wirtschaft ist ihr Aufstieg auf Rang 40 des "Economic Complexity Index" der Uni Harvard. Er gibt an, wie ausgefeilt die Produkte sind, die eine Volkswirtschaft herstellt. Deutschland zählt zu den Spitzenreitern.
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