Kritik an Bürgermeister Anklage gegen den twitternden Elektriker

Ersan Tas hat gespottet. Über den Bürgermeister von Ankara. Auf Twitter. In der Türkei hat das gravierende Konsequenzen: Der Elektriker bekommt die Macht des Staates zu spüren.
Regierungskritiker Tas: "Es sollte jeder verstehen, dass das Satire ist"

Regierungskritiker Tas: "Es sollte jeder verstehen, dass das Satire ist"

Foto: Hasnain Kazim

Freie Meinungsäußerung ist in der Türkei nicht gern gesehen: Hunderte Blogger wurden in den vergangenen Monaten angezeigt, festgenommen, verhört und verurteilt. Sie hatten es gewagt, Kritisches über die Regierung zu posten - die Bestrafung traf sogar Jugendliche.

Am Mittwoch beginnt in Istanbul der Prozess gegen den Elektriker Ersan Tas. Der 30-Jährige hatte es gewagt, Witze und Fotomontagen von mächtigen Politikern per Twitter zu verbreiten. Sein Lieblingsopfer: Melih Gökcek, seit 1994 Bürgermeister der Hauptstadt Ankara.

Kein Politiker ist bekannter für seine eifrige Twitter-Nutzung als Gökcek: Nahezu täglich setzt er Kurznachrichten ab und lässt die Welt wissen, was er über sie denkt - manchmal im Minutentakt. Mal nennt Gökcek eine Journalistin eine "Spionin Israels", mal schreibt er, die Polizei habe bei Demonstranten Pläne zum Bau einer Atombombe gefunden. Kürzlich beschimpfte er die Sprecherin des US-Außenministeriums als "dumme Blondine".

Elektriker Tas fing vor drei Jahren an, sich im Internet über den AKP-Politiker lustig zu machen. Geübt in Bildbearbeitung, montierte Tas Gökceks Kopf mal auf einen nackten Babykörper, mal auf einen pinkelnden Männerleib.

Politiker mit 2,6 Millionen Followern auf Twitter

Dem Bürgermeister folgen immerhin 2,6 Millionen Menschen auf Twitter. Beschimpft er jemanden per Tweet, steigen oft Tausende seiner Fans ein. Für seine Opfer bedeutet das eine oft tagelange, manchmal wochenlange Schimpftirade im Netz.

Als Tas sich vor zwei Jahren während des Gezi-Konflikts äußerte, wurde er umgehend von Gökcek-Anhängern attackiert. Er musste seinen Twitter-Account schließen, weil er mit Drohungen überflutet wurde. Tas wehrte sich jedoch und eröffnete ein neues Twitter-Konto: "Der Account von Gökcek heißt @06melihgokcek, mit der 06 wegen der Nummer auf den Autoschildern für Ankara. Ich nannte meinen neuen Account @06melihchina, China als Anspielung auf eine Fälschung, eine Kopie."

Es sollte eine Parodie sein auf Gökceks digitale Wutausbrüche. Das Profilfoto zeigt den Bürgermeister mit Weihnachtsmannmütze, das Hintergrundbild ist eine Babyfigur mit dem Gesicht des AKP-Politikers. "Außerdem schrieb ich dazu, dass es sich um eine Parodie handelt", erläutert Tas. "Es sollte also jeder verstehen, dass das Satire ist."

Gökcek verstand jedoch keinen Spaß. Er zeigte Tas an, weil dieser ihn angeblich als Dieb bezeichnet hatte. "Ich habe lediglich auf Korruptionsvorwürfe angespielt, die es nun einmal gegen ihn gibt", erklärt der Elektriker. Unter anderem hatte er eine Fotomontage veröffentlicht, die Gökcek in einem Raum voller Geldscheine zeigt. Tatsächlich hatte zuletzt auch Bülent Arinc, Vize-Premierminister und Parteifreund Gökceks, dem Bürgermeister Korruption vorgeworfen.

Heimlich gemachtes Foto von Festnahme veröffentlicht

Tas wurde im Dezember 2014 von der Polizei an seinem Arbeitsplatz festgenommen. Die Polizei, behauptet er, habe ihn geschlagen und gedemütigt. Sie beschlagnahmte sein Mobiltelefon und seinen Laptop, beides erhielt er erst vor wenigen Wochen wieder zurück.

Ein heimlich aufgenommenes Foto von seiner Festnahme sei Gökcek zugespielt worden. Der Bürgermeister habe es dann auf seiner Twitter-Seite veröffentlicht, behauptet Tas - "zusammen mit meinem vollen Namen". Daraufhin habe er so viele Drohungen erhalten, dass er aus Angst um sein Leben einen Monat lang seine Wohnung nicht mehr verlassen habe. Als er Gökcek deswegen anzeigte, habe die Staatsanwaltschaft ihm mitgeteilt, dafür gebe es keine rechtliche Grundlage.

Im März verurteilte ein Gericht Tas zu einer Geldstrafe von insgesamt 9100 Lira, umgerechnet etwa 3150 Euro. Ihm wurde ein Straferlass in Aussicht gestellt, sollte er kein zweites Mal wegen Beleidigung schuldig gesprochen werden.

Doch nun beginnt der zweite Prozess: Weil die Ermittler auf seinem Computer auch Bilder von Recep Tayyip Erdogan fanden, die den Präsidenten zum Beispiel als Schäfer oder als Lautenspieler zeigen, wird ihm Beleidigung des Staatsoberhaupts vorgeworfen. "Dabei habe ich diese Fotos nie veröffentlicht", verteidigt sich Tas. Außerdem seien das "satirische Bilder, die in einem demokratischen Land völlig problemlos wären".

Tas rechnet damit, dass er wieder verurteilt wird. Außerdem lägen weitere Anzeigen gegen ihn vor, von Leuten aus der Regierung. "Eine unabhängige Justiz gibt es in der Türkei kaum noch. Welcher Richter würde sich trauen, mich freizusprechen, wenn man mir Beleidigung von Erdogan vorwirft?"

"Atmosphäre der Einschüchterung"

Einen langen Rechtsstreit könne er sich nicht leisten, sagt Tas. Schon eine weitere Verurteilung würde ihn finanziell überfordern. "Nach meiner Festnahme an meinem Arbeitsplatz habe ich meinen Job verloren", sagt der Elektriker. "Und in meinem polizeilichen Führungszeugnis ist das erste Urteil vermerkt. Damit ist es schwierig, einen neuen Job zu finden."

Von einer "Atmosphäre der Einschüchterung" spricht die Menschenrechtsorganisation Amnesty International. "Die türkische Regierung muss endlich beginnen, die freie Meinungsäußerung auch ihrer Kritikerinnen und Kritiker zu achten und zu schützen", sagt die Generalsekretärin von Amnesty Deutschland, Selmin Caliskan.

Eine schriftliche Anfrage an Melih Gökcek, warum er die Tweets von Tas als Beleidigung empfindet und er sie nicht einfach ignoriert, blieb unbeantwortet.

Ersan Tas jedenfalls ist unsicher, wie er sich verhalten soll. Seine Parodieseite auf Twitter unterhält er weiterhin. Aber vermutlich, sagt er, müsse er vorsichtiger sein, was er dort künftig postet.

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