
Twitter Town Hall: 140 Zeichen mit Obama
Twittern im Weißen Haus Online-Oberseminar mit Professor Obama
Woran erkennt man, dass jemand der mächtigste Mann der Welt ist? Nicht nur an dem Koffer mit den Geheimcodes zur Zündung von Atomwaffen. Nicht nur an den Scharfschützen auf dem Dach des Weißen Hauses, auch nicht nur an den golden schimmernden Vorhängen in den prachtvollen Empfangsräumen.
Nein, es ist auch daran zu erkennen, dass jemand eine einstündige "Twitter Town Hall" abhält, ohne sich mehr als ein paar Minuten lang um die strikten Begrenzungen des Kurznachrichtendienstes - maximal 140 Zeichen pro Eintrag - zu scheren. Und trotzdem umjubelt wird.
US-Präsident Barack Obama steht am Mittwochnachmittag im East Room seiner Residenz, 140 Gäste sind geladen. Hinter ihm sind Bildschirme zu sehen, auf denen bald die Fragen von Twitter-Nutzern im ganzen Land erscheinen sollen, vor dem Präsidenten steht ein Laptop.
In den tippt er nun. "Ich werde hier Geschichte schreiben", sagt der erste afro-amerikanische Präsident, der sich mit dem Schreiben von Geschichte durchaus auskennt. Obama verfasst als erster US-Oberbefehlshaber live einen "tweet", er formuliert ihn weniger als 140 Zeichen lang, alles wie vorgeschrieben.
Doch dann wird die erste Twitter-Frage an Obama auf einen der Bildschirme projiziert. Es geht darum, welche Fehler er gemacht habe beim Kampf gegen die Rezession, und was er nun anders anpacken würde.
Obama könnte sich jetzt auch bei seiner Antwort an die Twitter-Kürze halten. Aber der mächtigste Mann der Welt denkt gar nicht daran. Er beginnt mit der Feststellung, dies sei eine hervorragende Frage, er schließt einen historischen Überblick zur Wirtschaftskrise an. Dann schwenkt er zur Rettung der Autoindustrie, streift die Probleme der US-Infrastruktur, äußert sich zum Stand der Rezession. Und schließlich muss Obama natürlich noch dringend über den amerikanischen Immobilienmarkt reden.
Die lange Rede, die ausschweifende Antwort als Markenzeichen
Einige Hundert Wörter reiht er aneinander. Es wirkt, als bemühe sich der Präsident gleich zu Beginn um die längste Twitter-Antwort der Weltgeschichte. Noch dazu mündlich, nicht getippt, ein Präsidentenmitarbeiter fasst Obamas Ausführungen bloß für ein Twitter-Konto zusammen.
Und was macht der Moderator der "Twitter Town Hall im Weißen Haus", Twitter-Gründer Jack Dorsey, angesichts solcher Regelverstöße? Er schaut respektvoll zu.
Dieser Start ist bezeichnend für die Twitter-Sprechstunde eines Präsidenten, der für dieses Format seltsam ungeeignet scheint. Obama hat die lange Rede, die ausschweifende Antwort, zu seinem Markenzeichen gemacht. Gerne schimpft er über die hektische Kurzatmigkeit Washingtons, für die Twittereinträge ein Symbol geworden sind.
Doch er ist eben auch der Präsident, der mit sozialen Netzwerken den Wahlkampf 2008 gewann. Sein Team hat damals mehr als 13 Millionen E-Mail-Adressen quer durch die USA eingesammelt. Wahlkampfleiter David Plouffe will diesen Online-Schatz nun wieder nutzen, vor allem zum Spendensammeln. Also trieb er Obama zuletzt zur öffentlichen Facebook-Sprechstunde an der Seite von Mark Zuckerberg, und nun zum Dialog per Twitter. Immerhin kann der Demokrat auch dort auf rund neun Millionen "followers", Anhänger, zählen.
Rund 170.000 von ihnen haben nach Twitter-Angaben für die Sprechstunde Fragen eingereicht. Es müssen ziemlich ernsthafte Menschen sein. Die 18 Fragen, auf die Obama schließlich antwortet, gleichen einem Online-Oberseminar für Politikfreaks. Es geht um Eingliederungshilfe für Veteranen, um die US-Schuldenobergrenze, die Energiepolitik und Details des amerikanischen Steuerrechts.
Die gewagteren Fragen, die in der Twitter-Stratosphäre kursieren - etwa zu Tipps für Partnerschaftsanbahnung - schaffen es nicht durch den Wall der acht "Kuratoren", welche die Fragen an Obama auswählen.
Und auch die Republikaner, die angekündigt hatten, mit ihren kritischen Fragen die Veranstaltung zu überfluten, müssen fast draußen bleiben. Nach rund einer halben Stunde taucht auf einmal eine Frage von John Boehner auf dem Bildschirm auf, dem republikanischen Sprecher des Repräsentantenhauses und Obama-Gegenspieler.
"Wo bleiben die Arbeitsplätze nach staatlichen Rekordausgaben, die uns noch weiter in Schulden gestürzt haben?", hat Boehner geschrieben.
Doch Obama kann ausführlich die hoffnungsfrohen Signale der Wirtschaftsentwicklung betonen - und laut hoffen, dass auch der Republikaner Boehner dies schließlich einsehen werde. Die vielen jungen Gäste im East Room lachen zustimmend.
"Ein beinahe nachrichtenfreies Ereignis"
Eine Stunde lang hat der Präsident so Gelegenheit zu langen Repliken auf kurze Fragen. Dann bekommt er sogar noch selber Antworten, auf seinen eigenen "tweet", den er gleich zu Beginn in seinen Laptop tippte.
"Um das Staatsdefizit zu reduzieren, wo würden sie kürzen und welche Investitionen würden sie beibehalten?", hatte Obama an die Twitter-Gemeinde getweetet, unterzeichnet mit "bo" (das soll für Barack Obama stehen, nicht für den gleichnamigen Familienhund).
Die Twitter-Nutzer fassen sich in ihren Empfehlungen kurz: "Verteidigungsausgaben kürzen", schreibt einer. "Sozialausgaben zusammen streichen", ein anderer. Oder: "Kein Geld mehr für Länder wie Pakistan, die dies verschwenden."
Nur Obama fasst sich lieber weiter lang. Er braucht gefühlte tausend Wörter, um die Empfehlungen zu kommentieren.
"Das war ein beinahe nachrichtenfreies Ereignis", mäkelt die "Washington Post" gleich danach. "Wir haben heute nichts Neues gelernt." Es hätten politische Fragen gefehlt, etwa zur Qualität des republikanischen Bewerberfeldes.
Doch offenbart die Reaktion auch den Zwiespalt zwischen US-Journalisten und Bürgern. Leser loben nämlich in Einträgen gerade, dass die Twitter-Fragen sich um Inhalte gedreht hätten, nicht bloß um Wahlkampfgeplänkel. Ihnen gefällt das Online-Oberseminar.
Das Weiße Haus jedenfalls hat schon angekündigt, Obama werde im kommenden Wahlkampf persönlich twittern, das 2012-Logo ziert schon sein Twitter-Konto.
Mal sehen, wie das mit 140 Zeichen wird.