Überläufer Mussa Kussa Gaddafi-Verräter stürzt Westen ins Dilemma

Libyscher Überläufer Mussa Kussa: "Gaddafis Regime zerbröselt von innen"
Foto: MAHMUD TURKIA/ AFPEs ist ein spektakulärer Coup für die internationale Allianz gegen Muammar al-Gaddafi. Die Flucht des libyschen Außenministers Mussa Kussa nach London wurde in den westlichen Hauptstädten am Donnerstag als entscheidender Schlag gegen den libyschen Diktator gefeiert.
"Sein Rücktritt zeigt, dass Gaddafis Regime unter dem Druck auseinander bricht und von innen zerbröselt", sagte der britische Außenminister William Hague in einer Pressekonferenz. Der frühere Außenminister Jack Straw sagte der BBC, dies sei der Wendepunkt im Kampf gegen Gaddafi.
Es ist psychologisch jedenfalls eine empfindliche Schlappe für den Diktator. Aus Oppositionskreisen hieß es am Donnerstag, Gaddafi habe einen Wutanfall bekommen, als er von der Flucht seines Außenministers erfuhr. Er habe seinem Geheimdienstchef Abu Zeid Omar Durda den Auftrag erteilt, Kussa in Großbritannien aufspüren und liquidieren zu lassen.
Tatsächlich ist der 61-Jährige die beste Insider-Quelle, die der Westen sich wünschen kann. Seit 30 Jahren ist Mussa Kussa einer der engsten Vertrauten des Diktators. Von 1994 bis 2009 war er Chef des Auslandsgeheimdienstes, bevor er als Außenminister ein stärkeres öffentliches Profil annahm. "Er war Gaddafis rechte Hand", sagt der libysche Oppositionelle Guma al-Gamaty.
Die Alliierten erwarten nun Details aus erster Hand: Wie ist die Stimmung in Gaddafis Führungszirkel? Wer sind die Scharfmacher, wer die Skeptiker? Wo sind die Schwachstellen des libyschen Militärs nach den Luftschlägen? All dies könnte Kussa wohl beantworten. Die Frage ist: zu welchem Preis?
Die genauen Umstände der Flucht sind noch unklar. Kussa war am Montag nach Tunesien gereist - privat, wie es hieß. Von dort flog er am Mittwoch weiter nach England, am Abend traf er in Farnborough südwestlich von London ein. Auf dem kleinen Flughafen landen keine Linienmaschinen, sondern nur Privatjets. Laut "Guardian" reiste Kussa an Bord einer Maschine, die vom britischen Geheimdienst gechartert war. Aber dies wurde inzwischen von offizieller Seite dementiert.
Kussa hat enge Kontakte zum britischen Geheimdienst MI6
Die britische Regierung hielt sich zu der Operation überhaupt äußerst bedeckt. Sie teilte lediglich mit, dass Kussa aus freien Stücken nach London gekommen und nun an einem sicheren Ort untergebracht sei. Er stehe nicht unter Arrest. Es wurde nicht bestätigt, ob er tatsächlich übergelaufen ist. Offiziell ist nur von seinem Rücktritt die Rede. "Wir diskutieren seine und unsere Optionen", sagte Hague.
Eine Beteiligung des Geheimdienstes gilt als wahrscheinlich. Es sei kaum vorstellbar, dass Kussa ohne Hilfe der westlichen Dienste geflohen sei, sagte David Hartwell, Nahostexperte der Fachpublikation "Jane's". Als ehemaliger Geheimdienstchef habe Kussa bis heute enge Kontakte zum britischen Auslandsgeheimdienst MI6 gehalten.
Mit den britischen Kollegen und dem Gaddafi-Sohn Saif al-Islam hatte er 2003 die Verhandlungen über Libyens Verzicht auf Massenvernichtungswaffen geführt und das historische Treffen zwischen dem damaligen britischen Premier Tony Blair und Muammar al-Gaddafi arrangiert. 2009 war er eine Schlüsselfigur bei den britisch-libyschen Gesprächen über die Freilassung des Lockerbie-Attentäters al-Mikrahi.
Hague sagte, er habe in den vergangenen Wochen mehrfach mit Kussa telefoniert, zuletzt am Freitag. "Zwischen den Zeilen" habe er da bereits dessen Zweifel erkannt. Nun ist Kussa das dritte Kabinettsmitglied nach dem Justiz- und dem Innenminister, das Gaddafi den Rücken gekehrt hat. An einem geheimen Ort verhandelt er mit britischen Diplomaten und Geheimdienstlern über seine Zukunft.
Die Flucht stellt die britische Regierung vor ein Dilemma: Wie weit kann sie Kussa im Austausch für Informationen entgegenkommen? Laut "Guardian" will der Ex-Außenminister politisches Asyl in Großbritannien beantragen. Das Blatt zitiert Noman Benotman, einen Freund Kussas, mit den Worten, dieser hoffe auf eine gute Behandlung auf der Insel.
Widerstand gegen Vorzugsbehandlung Kussas
Dagegen erhob sich bereits Widerstand in der konservativen Partei. Die Abgeordneten Julian Lewis und Patrick Mercer warnten, ein Deal mit Kussa wäre moralisch fragwürdig. Auch der libysche Oppositionelle Ibrahim al-Majet mahnte: "Wir dürfen nicht vergessen, welche Rolle Kussa in der Vergangenheit gespielt hat."
Kussa wird unter anderem verdächtigt, einer der Drahtzieher hinter den Bombenattentaten auf amerikanische und französische Passagierflugzeuge in Lockerbie und Niger in den achtziger Jahren gewesen zu sein. Die schottischen Strafverfolgungsbehörden haben am Donnerstag angekündigt, dass sie Kussa im Zusammenhang mit dem Lockerbie-Anschlag verhören wollten; der Fall sei bis heute nicht abgeschlossen.
Außenminister Hague betonte deshalb auch, man werde Kussa keine Immunität vor der Strafverfolgung anbieten. Damit wollte er offensichtlich seine Parteifreunde beruhigen. Doch scheint diese Sprachregelung nicht jeglichen Deal auszuschließen, schließlich redete Hague auch von "Optionen", die man nun diskutiere.
"Auf keinen Fall sollten sie Kussa jetzt in Handschellen legen", sagte der frühere MI6-Agent Harry Ferguson. Das hätte eine abschreckende Wirkung auf andere mögliche Überläufer. Stattdessen müsse man den Riss in Gaddafis Regime vergrößern. "Die Leute reden nur, wenn sie Optionen haben."
Strategie des Internationalen Strafgerichtshofs geht auf
Kussas Flucht ist das erste Indiz, dass die Strategie des Internationalen Strafgerichtshofs aufgeht. Chefankläger Luis Ocampo Moreno hatte Anfang März die Ermittlungen gegen Gaddafis engsten Führungszirkel wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit aufgenommen. Sein erklärtes Ziel war es, das Regime zu spalten. Darum hatte er einige Politiker wie Kussa und den Verteidigungsminister von den Ermittlungen ausgenommen, in der expliziten Hoffnung, sie würden sich gegen Gaddafi wenden.
Die Allianz hofft nun, dass weitere Gaddafi-Getreue Kussas Beispiel folgen. Auch die Ausweisung von fünf der 19 Mitarbeiter der libyschen Botschaft in London am Mittwoch diente dem Ziel, den Druck auf Gaddafis Diplomaten zu erhöhen. Insbesondere den Botschafter will die britische Regierung dazu bringen, die Seiten zu wechseln. Hague sagte, er habe keine konkreten Hinweise auf weitere mögliche Überläufer in Gaddafis Umfeld. "Aber ich kann mir vorstellen, dass es noch viel mehr Leute gibt, die gern gehen würden."