Lage der Uiguren "In China läuft ein kultureller und ethnischer Völkermord"

Jewher Ilham: "Ich bin die Einzige, die es herausgeschafft hat"
Foto: Jean-Francois Badias/ APJewher Ilham, 25, ist die Tochter des chinesischen Wirtschaftsprofessors Ilham Tohti, der aufgrund seines Eintretens für die Rechte der uigurischen Minderheit zu lebenslanger Haft verurteilt wurde.
Sie kam 2013 allein in die USA, nachdem ihr Vater am Flughafen verhaftet wurde. Er lehrte bis Anfang 2014 an der Minzu-Universität in Peking und galt als letzter gemäßigter Aktivist der muslimischen Uiguren in China.
Seit seiner Verhaftung hat Ilham mehrere Preise für ihren Vater entgegengenommen, zuletzt am Mittwoch den Sacharow-Preis des Europaparlaments. Mit dem Sacharow-Preis zeichnet das Europaparlament seit 1988 Menschen oder Organisationen aus, die sich für Menschenrechte und Grundfreiheiten einsetzen. Der Preis ist nach dem verstorbenen russischen Dissidenten und Physiker Andrej Sacharow benannt und mit 50.000 Euro dotiert.
Video: "Nach Freiwilligkeit sah das zu keinem Zeitpunkt aus"
SPIEGEL: Frau Ilham, die chinesische Regierung hat in der Region Xinjiang einen repressiven Polizei- und Überwachungsstaat aufgebaut, Hunderttausende Uiguren sind interniert. Jetzt hat das EU-Parlament ihrem Vater den Sacharow-Preis für geistige Freiheit verliehen. Finden Sie, dass die EU genug für die Uiguren unternimmt?
Ilham: Es ist zumindest ein Anfang. Aber es gibt noch viel Raum für Verbesserungen. Ich hoffe auf weitere Maßnahmen.
SPIEGEL: Was genau erwarten Sie?
Ilham: Es hilft, das Vorgehen der chinesischen Regierung öffentlich zu verurteilen. Aber es wäre noch besser, wenn die EU chinesische Behörden oder westliche Regierungen sanktionieren würde, welche die Konzentrationslager direkt unterstützen. Einer der Gründe für deren Existenz ist, dass die chinesische Regierung von ihnen profitiert. Wenn das aufhörte, würde es Pekings Perspektive wahrscheinlich ändern. Visa-Beschränkungen für chinesische Beamte, die mit den Lagern in Verbindung stehen, wären ebenfalls hilfreich. Aber die EU sollte auch nicht zu weit gehen.
SPIEGEL: Wie meinen Sie das?
Ilham: Es wäre nicht ideal, die gesamte chinesische Regierung zu bestrafen oder alle Handelsbeziehungen zwischen der EU und China zu begrenzen. Wir wollen kein Problem schaffen, sondern versuchen, eines zu lösen. Deshalb sollten die Maßnahmen auf bestimmte Produkte, Unternehmen oder Beamte ausgerichtet sein, die mit den Lagern in Verbindung stehen.
SPIEGEL: Einige Mitglieder des EU-Parlaments fordern bereits, den Import von Produkten aus den Lagern in die EU zu verbieten. Aber gibt es überhaupt eine Möglichkeit, sie sicher zu identifizieren?
Ilham: Es gibt Listen von Unternehmen, die Produkte aus den Konzentrationslagern exportieren. Ohnehin sind die meisten Fabriken in der Region Xinjiang für Arbeitslager ausgelegt. Die EU könnte auch den Opfern direkte Hilfe leisten. Die aus den Lagern Entlassenen wollen nicht mehr in China leben und woanders ein Zuhause finden. Und diejenigen, die China bereits verlassen haben, haben in der Regel ein bis zehn Familienmitglieder, die in Lagern eingesperrt sind. Viele von ihnen sind schwer traumatisiert, sie leiden unter psychischen Problemen. Die EU könnte ihnen dringend benötigte Hilfe anbieten.

Ilham im EU-Parlament mit einem Porträt ihres Vaters (mit EU-Parlamentspräsident David-Maria Sassoli)
Foto: Frederick Florin/ AFPSPIEGEL: Die chinesische Regierung bezeichnet die Lager als "Umerziehungszentren", Sie nennen sie Konzentrationslager.
Ilham: Ich weiß, dass der Begriff an den Holocaust und den Tod von Millionen Juden erinnert. Und ich höre immer wieder, dass die Geschehnisse in China nichts sind im Vergleich zu dem, was in Europa in den Vierzigerjahren passiert ist. Aber der Holocaust fand nicht an einem Tag statt, er eskalierte im Lauf der Jahre. Und in China läuft bereits ein kultureller und ethnischer Völkermord. Eine Kultur, eine Religion und eine Sprache werden vernichtet. Und in den Lagern werden Menschen getötet und gefoltert. Überlebende berichten, dass ihre Fingernägel herausgerissen wurden, dass sie vergewaltigt und ihre Kinder getötet wurden. Ich hoffe, dass die Dinge nicht so tragisch enden wie in Europa während der Nazizeit, aber sie sind schon tragisch genug.
SPIEGEL: In Ihrer Rede vor dem EU-Parlament haben Sie gesagt: "Die Geschichte wiederholt sich. Es hat vorher nicht gut geendet, und es wird auch jetzt nicht gut enden."
Ilham: Ich habe mich damit auf jede Menschenrechtsverletzung in der Geschichte bezogen, von denen der europäische Holocaust nur eine ist. In China zum Beispiel haben die Menschen während des sogenannten Großen Sprungs nach vorn gewaltige Menschenrechtsverletzungen erlitten. Keines dieser Ereignisse ist gut ausgegangen, sie haben niemandem geholfen, sondern Menschen und Regierungen geschadet. Ich hoffe wirklich, dass die chinesische Regierung aus historischen Fehlern lernt und ihr Handeln ändert.
SPIEGEL: Sie sagen, dass die chinesische Regierung unter anderem Ihr Telefon gehackt hat. Wurden noch andere Maßnahmen gegen Sie ergriffen?
Ilham: Das Hacken von Handys und Laptops ist nichts Neues. Schon bevor ich in die USA kam, hat es massive Eingriffe in unser Privatleben gegeben. Das Telefon und der Computer meines Vaters wurden oft gehackt. Ich könnte nun einfach sagen: Ich habe nichts zu verbergen, sollen sie meinetwegen mein Handy hacken. Aber das ist nicht die Frage - diese Verletzung der Privatsphäre sollte es einfach nicht geben. Glücklicherweise wurde ich ansonsten noch nicht persönlich ins Visier genommen. Aber ich fürchte um meine Familie, die immer noch in China ist. Ich bin die Einzige, die es herausgeschafft hat.