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Ukraine: Das Leid der Alten

Foto: Till Mayer

Alte in der Ukraine Das Elend mit dem Krieg

Der Konflikt in der Ukraine trifft längst die gesamte Bevölkerung im Land. Alleinstehende Alte wissen oft nicht, wie sie ihr täglich Brot bezahlen sollen. Sie haben schon einmal einen Krieg erleben müssen - jetzt kehren Ängste aus der Vergangenheit zurück.

Wasyl Swarytsch hat so seine Mühe, sich in die Uniformjacke zu zwängen. Mit 85 Jahren ist keiner mehr gelenkig wie ein Turner. Dann steht er da, wirft einen letzten Blick in den Spiegel im Schlafzimmer. Auf dem Kopf die Mütze mit dem Dreizack. Die Jacke sitzt, mit all den Orden der UPA über dem Herzen, der Ukrajinska Powstanska Armija, der Ukrainischen Aufstandsarmee.

"Wissen Sie, am liebsten würde ich so zu den Terroristen in der Ostukraine marschieren. Mit einem gewaltigen Sprengsatz unter dem Arm", sagt der alte Mann. Dann erzählt er stolz von seinem Kampf für eine "unabhängige Ukraine". Wie er mit 17 Jahren in die UPA eintritt. Er berichtet vom Partisanenkampf gegen die Sowjets. Davon, wie sie im Weltkrieg anfangs mit den Deutschen, dann gegen sie kämpfen. Noch Ende der Vierziger Jahre verschanzt er sich am Tag im Erdbunker, streift nachts mit den Kameraden durch die Wälder, um die Rote Armee zu bekämpfen.

Erst 1950 wird er erwischt und zur Zwangsarbeit im Gulag verurteilt. "Im Lager Kengir habe ich die Hölle erlebt. Zu essen gab es verfaulten Fisch und schimmliges Brot. Unzählige sind gestorben. Tag für Tag. Sie haben uns behandelt wie Tiere", erklärt der Veteran. Swarytsch überlebt. Auch den Aufstand, den die Gefangenen von Kengir wagen, als sie die unmenschliche Behandlung nicht mehr ertragen. Weil zu viele von ihnen ermordet und in der kasachischen Steppe verscharrt wurden.

Hunderte zahlen für ihren Mut mit ihrem Leben, am Ende rollen die Panzer den Widerstand nieder. Monate später wird der junge Swarytsch entlassen. Aber in seine westukrainische Heimat darf er erst 1980 wieder. Erst dann hört der KGB auf, ihn zu bespitzeln, berichtet er. Heute bekennt er sich stolz zu seiner Zeit als Kämpfer. "Die Ukraine wird es immer geben", sagt er.

Ein zerrissenes Land, in dem die Fratze des Krieges aufgetaucht ist

Wasyl Swarytschs Geschichte ist eine aus dem Westen der Ukraine. Die Rolle der UPA im Zweiten Weltkrieg entzweit das Land bis heute. Im Osten des Landes gibt es Denkmäler für ihre Opfer. Historiker werfen der UPA Massenmorde an Polen, Juden und Kommunisten vor. Und die Kollaboration mit Nazi-Deutschland. Im westukrainischen Lwiw (Lemberg) sieht man die UPA-Kämpfer mehrheitlich als Helden für eine unabhängige Ukraine. Ihrem historischen Führer Stepan Bandera haben Nationalisten ein gewaltiges Denkmal in Lemberg errichtet.

"Mit dem Sprengstoff mitten in die russischen Terroristen, das wäre ein schöner Heldentod", sagt der 85-Jährige noch einmal zum Abschied. Dabei ist er mit seiner Uniform ohne TNT schon Sprengstoff genug, in einem zerrissenen Land, in dem plötzlich die Fratze des Krieges aufgetaucht ist.

Marija Woloschynska hat genug vom Heldentod. Ihren Vater hatten deutsche Soldaten im Dorf zu Tode gefoltert. Im Nachkriegschaos der Westukraine lernte sie nicht einmal lesen und schreiben. "Mir reicht der Krieg, den ich als Kind erleben musste", sagt die 79-Jährige. "Jeder Mensch, der da heute stirbt, tut mir leid. Dann schießen sie ein Flugzeug ab mit Frauen und Kindern darin. Was für eine bösartige Verschwendung von Leben. Es ist so traurig, was mit unserer schönen Ukraine passiert", erklärt sie.

"All die Menschen im Osten des Landes, was müssen sie leiden"

Deshalb sieht und hört sie nicht hin, wenn ihr Mann den altersschwachen Röhrenfernseher laufen lässt. Weil sie es nicht erträgt, wieder Panzer rollen zu sehen. Aber wegzusehen ist nicht leicht im winzigen 30 Quadratmeter-Häuschen. Dessen rissige Wände unter dem Kalender aus dem Jahr 1994, dem Wandteppich mit Rosenmuster und einem eigentümlichen Folklorebild selbst im Sommer noch feucht sind.

"All die Menschen im Osten des Landes, was müssen sie leiden", sagt Marija Woloschynska leise. Dabei hat der Konflikt sie und ihren Mann Walentyn eingeholt. Selbst wenn die Front weit, weit weg ist.

Das Paar hat keine Kinder und Verwandte, und so sind sie ganz auf sich allein gestellt. Legen sie ihre Rente zusammen, müssen sie mit 150 Euro im Monat überleben. Doch die Kaufkraft schwindet merklich. Schon vor der Krise war der Winter des Lebens hart, wenn es keine Angehörigen gibt, die helfen. Jetzt kommt alles noch schlimmer. Viele Rentner haben gerade einmal die Mindestrente von 949 Griwna, umgerechnet 60 Euro im Monat.

Seit der Maidan-Revolution galoppiert die Inflation. Marija Woloschynska rechnet vor: Kartoffeln 2,5 mal so teuer, Brot 1,5 mal, Milch das Doppelte. "Und morgen kann es schon wieder mehr sein", sagt sie. Dabei haben sie noch Sommer.

Vor dem Winter hat das Paar jedes Jahr Angst, besonders seit Walentyn Woloschynski durch einen Schlaganfall halbseitig gelähmt ist. "Die Heizkosten sind hoch. Aber wenn wir jetzt kein Gas mehr aus Russland bekommen? Was dann?", fragt die 79-Jährige besorgt. "Ich weiß doch schon jetzt nicht mehr, wie ich uns durch den Monat bringe", schüttelt die alte Dame den Kopf. Dann dreht sie sich kurz weg, damit der Gast die Tränen nicht sieht. Streicht verlegen über ihre viel zu große ausgewaschene Schürze.

Die Jugend flaniert, als würde es keinen Konflikt geben

Wenigstens die Medikamente für den kranken Mann bekommen sie kostenlos vom Roten Kreuz. Das ist nicht die Regel. Die Mittel stammen aus einem Fonds, den SPIEGEL-ONLINE-Leser 2011 nach einer Reportage über Altersarmut mit ihren Spenden initiiert haben. "Vermutlich wäre mein Mann sonst schon tot", bedankt sich Marija Woloschynska.

Im Herzen der Stadt, vor der majestätischen Oper, flaniert derweil die Jugend, als würde es keinen Konflikt geben. Schönheiten suchen in der Sommerhitze Kühlung in der Gischt des Springbrunnens. Ihre Röcke sind meist kurz. In der Wiese neben der prächtigen Allee singt eine Gruppe kahlgeschorener Sektenjünger "Hare, Hare, Krishna" und trommelt fleißig. Kinder surren mit kleinen Elektroautos über das Pflaster. So sieht Frieden aus.

Keine 500 Meter entfernt erinnern Kekse und Gebäck an einen Krieg im eigenen Land. Studentinnen haben einen "patriotischen Markt" in einer Seitenstraße der Altstadt aufgebaut. Es gibt Muffins mit bau-gelbem Zuckerguss in Landesfarben, selbstgemachte Limo und traditionellen Kuchen. "Mit den Einnahmen unterstützen wir unsere Armee", sagt Iryna Matwijischyn. Kuchen für Granaten? Die 21-Jährige lacht und schüttelt den Kopf. "Nein, für Nahrung, Nachtsichtgeräte und Schutzwesten. Keine Waffen. Aber unsere Soldaten sind schlecht ausgerüstet", meint sie. Neben ihr verkauft Darija Mychalewytsch im kurzen weißen Tunikakleidchen ihre Plätzchen. "Viel können wir nicht erreichen, aber es ist ein Zeichen", sagt sie. Freunde von ihr sind schon an der Front. Jetzt kommt die Teilmobilisierung.

Dann wird der Konflikt in Lemberg noch spürbarer werden. Auf dem berühmten Lytschakiwski-Friedhof liegen schon die ersten Gefallenen begraben. Ein Junge blickt vom gerahmten Sterbebild durch das langsam welkende Blumenmeer. Er sieht jünger aus als 20, jünger als Darija Mychalewytsch ist. Eigentlich müssten ihre Kriegskekse bitter schmecken, doch sie sind süß.

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