Ukraine Grüne Botschaft für die Partyrevolutionäre

Volksaufstand in Kiew: Hunderttausende ziehen trotz Schneefalls den sechsten Tag auf die Straße. Der Druck des Volkes veranlasst das Parlament, die Wahl für ungültig zu erklären. Oppositionskandidat Juschtschenko wird zur Heilsfigur stilisiert - und ein Grüppchen deutscher Grüner schaut bei der Revolution in der Ukraine vorbei.
Von Alexander Schwabe

Kiew - In der deutschen Botschaft in Kiew herrscht derzeit starker Parteienverkehr. Seit in der Ukraine Revolution und Party zum Synonym geworden sind, nimmt der Besuch deutscher Politprominenz in der Bohdana Chmelnyzkoho 25 zu. Der erste deutsche Sturm hat es allerdings noch nicht aufs Eis gebracht in der tief gefrorenen Drei-Millionen-Stadt. Die Abgeordnete Claudia Nolte (CDU) war Mitte der Woche da.

Gestern Nachmittag Punkt 15 Uhr fuhr erneut eine Delegation aus Deutschland auf dem schneebedeckten Kopfsteinpflaster vor der Vertretung vor. Eine kleine Gruppe Grüner sah man eilig über den Matsch an der Bordsteinkante auf den Gehsteig hüpfen. Die Abgeordneten Katrin Göring Eckardt, Rebecca Harms und Rainder Steenblock begeben sich samt Gefolge zügig in ein Hinterzimmer. Sie müssen gebrieft werden. Die angekündigte Pressekonferenz wird erst mal verschoben wie so viele Pressekonferenzen in den letzten Tagen. Denn die politische Lage hat sich wieder einmal überraschend und dramatisch verändert: Die Mehrheit im Parlament hat beschlossen, die Wahl vom vergangenen Sonntag für ungültig zu erklären.

Die Fraktionsvorsitzende der Grünen im Bundestag, die Grünen-Abgeordnete im Europäischen Parlament und der europapolitische Sprecher der Grünen haben sich also einen guten Tag ausgesucht für ihren Kurztrip an den Dnjepr. Umgehend und vor Ort können sie kund tun, es sei zu begrüßen, dass es Neuwahlen gebe - wer täte dies nicht, außer Ministerpräsident Wiktor Janukowitsch und Konsorten, die wegen massiver Wahlfälschungen zum Sieger erklärt worden waren? Harms fügt immerhin selbstkritisch hinzu, dass in der "Ukraine-Politik" Fehler gemacht worden seien, die europäische Wahlbeobachterdelegation sei beispielsweise zu schwach besetzt gewesen.

Mit Rastazöpfen und Zobel

Zur gleichen Zeit, kurz nach der Bekanntgabe des keinesfalls verbindlichen Parlamentsbeschlusses, feiert das Volk auf dem Majdan Nezaleschnosti, dem Platz der Unabhängigkeit, der zur Heimat der Partyrevolutionäre geworden ist. Glückliche Gesichter, fröhliche Menschen, aktive, optimistische Bürger, soweit man sehen kann. Sie alle haben ihren Lebensalltag unterbrochen, um bei der größten Bewegung ihres Landes in der jüngeren Geschichte mitzuwirken.

Es sind Menschen aus allen gesellschaftlichen Schichten, vom Intellektuellen bis zum Maschinenschlosser, Menschen allen Alters, vom rastazöpfigen Teenager bis zur Zobel tragenden Dame, Großmütter und Enkeltöchter, Menschen aller Regionen, aus der Westukraine und aus dem Donezk-Becken im Osten, und es sind Menschen verschiedener Konfession: römisch Unierte und ukrainisch Orthodoxe.

Unzählige Helfer scheuen keine Kosten und Mühen, die Zehntausenden Demonstranten für mehr Freiheit und Demokratie mit warmen Getränken, Keksen, Obst, Handschuhen und Socken im kalten Kiew zu versorgen. Es ist die derzeit wohl größte Familie der Welt: Die weit über 100.000 Menschen kennen sich zwar nicht alle, dennoch gibt es unter ihnen keine Fremden.

Es sind Menschen, die ihren Anspruch auf eine offene Zukunft feiern, die vor Optimismus und Zuversicht strotzen. Es sind Menschen, die genug haben von Schattenwirtschaft und Schwarzmarkt, von Korruption und organisierter Kriminalität. Es sind Menschen, die die bisherigen Stereotype, die der ukrainischen Bevölkerung zugeschrieben wurden, widerlegen. Lethargisch, politisch depressiv und masochistisch duldsam, all diese Eigenschaften sind wie über Nacht verflogen, und nun - kurz vor der Erschöpfung nach einer langen euphorischen Woche - grenzenloser Jubel.

Dicht wie Beton

Die Delegation der Grünen hat inzwischen die deutsche Botschaft verlassen und ist auf dem Weg zu einem Gespräch mit dem Vorsitzenden der zentralen Wahlkommission, Sergej Kiwalow, einem ehemaligen Boxer aus Odessa. Die frisch aus dem fernen Deutschland Eingeflogenen sind erneut ganz nah dran. Sie erfahren aus erster Hand - und als eine der ersten -, dass am 19. Dezember neu gewählt werden soll - und damit nicht am 12. Dezember, dem Datum, das Oppositionsführer Wiktor Juschtschenko anvisiert hatte. "Es war ein sonderbares Treffen", sagt Harms. Der Wahlleiter habe das Gespräch zweimal unterbrochen, sei raus und rein gegangen, bis er mit der brandneuen Nachricht kam.

Draußen auf dem Unabhängigkeitsplatz steht die Menge mit Hunderten Fahnen, Bändern und Schildern vor der Bühne so dicht wie Beton. An der Bühnenbrüstung hängt das Bild einer Heiligenfigur, die beide Arme ausbreitet, um den Betrachter zu segnen. Doch den meisten Betrachtern ist die Sicht versperrt. Die Madonna bleibt unbeachtet.

Stattdessen ist Juschtschenko zur Heilsgestalt geworden. Wird der große Sieger des Tages, die Symbolfigur des zivilen Ungehorsams und einer möglicherweise bevorstehenden Zivilgesellschaft, heute Abend auf dem Podium erscheinen und zu seinem Volk sprechen? Niemand weiß es, doch das Volk wartet auf ihn.

Massige Männer küssen ihre Hand

Backstage plötzlich Blitzlichtgewitter. Dort gibt es eine andere Erscheinung. Die populärste Fernsehmoderatorin der Ukraine, Olha Herasyimiuk, posiert gerne mit Verehrern, die sich mit ihr ablichten lassen wollen. 20 Millionen Ukrainer, so sagt sie - das wären bei einer Einwohnerzahl von 47 Millionen gut 40 Prozent - , schauten ihre tägliche Show "Ohne Tabu" oder ihre wöchentliche "Wollen und Sein".

Auch Herasyimiuk wird sehr verehrt. Als sie hinter der Bühne auf Juschtschenko und ihren Auftritt wartet, verbeugen sich groß gewachsene, massige Männer mit Pelzmützen auf dem Kopf vor ihr und küssen ihr die Hand. Sie wolle versuchen, den künftigen Präsidenten vor der Menge zu interviewen, sagt sie. Sie sei zwar viele Zuschauer gewohnt, "doch heute sehe ich sie von Angesicht zu Angesicht", erklärt sie sichtlich nervös.

Eine Hand voll Sicherheitsleute in schwarzen Lederjacken prescht durch den Bereich zwischen der Bühne und den Absperrgittern, vorbei hinter einer Großleinwand, auf der die Menschen auf dem Platz sehen können, was gerade passiert. Bahnen sie dem einziehenden Juschtschenko den Weg? Mitnichten. Es ist Aleksander Moros, der Vorsitzende der Sozialistischen Partei, der auf seinem Gang zur Bühne ein paar Geistlichen die Hand schüttelt, die in Soutane und hohem Barett aussehen, als seien sie Klone Don Camillos.

Weisskirchens große Ansprache

Im Gefolge Moros' ist auch der deutsche Abgeordnete Gert Weisskirchen, Außenexperte der SPD, auf die Bühne gelangt. Seine Rede ist sehr bewegend. Er trifft die Sehnsüchte der Zuhörer. "Hier auf dem Platz der Unabhängigkeit erobert die Ukraine die Herzen Europas", ruft er unter tosendem Jubel, "Ihr stoßt die Tür auf von Osten nach Westen in das Herz Europas." Da werde die Ukraine immer bleiben. Bei so viel Herz jubeln die Menschen stärker als zuvor an diesem Abend.

Weisskirchen wird immer wieder von "Juschtschenko, Juschtschenko"-Rufen unterbrochen. Er nimmt die Vorgabe auf: "Die Ukraine hat gewählt - und die Ukraine hat die Lüge abgewählt." Jubel. "Die Zukunft hat einen Namen", fährt der Deutsche fort, "sie heißt Frieden, Freiheit, Demokratie". Das wollen die Menschen hören - und leben. Sie skandieren: "Kutschma weg, Kutschma weg!" Dann verfallen sie einmal mehr in einen Rap, den sie seit Tagen dem nationalen Bewusstsein einhämmern: "Razom nas bahato! Razom nas bahato! - Zusammen sind wir viele!"

Das Grüppchen Grüner ist inzwischen auch im Herzen Kiews angekommen. In Begleitung von Botschaftsrat Stefan Kresse, zuständig für Ernährung- und Landwirtschaftsfragen, hat es wieder eine interessante Neuigkeit im Gepäck: Juschtschenko, der ursprünglich zusammen mit Göring Eckardt sprechen sollte, komme nicht. Er sei noch im Parlamentsausschuss zu Gange.

Orangen und eine dicke Kerze

Während Weisskirchen tief beeindruckt das Gelände verlässt - "ich war bei allen Revolutionen dabei außer bei der rumänischen, und es gab überall exakt die gleiche Stimmung: Wir werden siegen" - muss Göring Eckardt vor dem Treppchen zum Auftrittsort warten. Ein bisschen in die Ecke gedrängt steht sie unmittelbar vor zwei Sicherheitsmännern, die sich vor ihr aufgebaut haben. Als sie die Bühne erklimmt, lassen die Guards ihren persönlichen Mitarbeiter zunächst nicht durch. Als er schließlich doch noch die Bühne betritt, schmettern tausende Kehlen "Juschtschenko, Juschtschenko".

Göring Eckardt liest ihre Rede ab - sie hält sie in Russisch. Sie richtet Grüße von Außenminister Joschka Fischer aus, mit dem sie kurz vor ihrem Auftritt telefoniert hatte (mäßiger Applaus). Sie erzählt den Revolutionären, die inzwischen in heftigem Schneefall stehen, dass vorgestern im Bundestag auf jedem Tisch eine Orange gelegen sei. Sie erzählt von ihren Erfahrungen 1989 in der DDR, als auch sie für Freiheit und Demokratie demonstriert hat.

Bei den letzten Worten wechselt sie ins Ukrainische: "Ihr seid das Volk - ein einiges Volk." Dann überreicht sie einem Vertreter der ukrainischen Demokratiebewegung eine orangefarbene, dicke Kerze. Um 19.15 Uhr verlassen die Grünen die Revolution. Anchor-Woman Herasyimiuk steht nun alleine auf der Bühne - Juschtschenko ist nicht gekommen.

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