Eskalation im Donbass Statisten einer Propagandaschlacht
Pietät ist in Donezk, dem Zentrum des von prorussischen Separatisten beherrschten Gebietes in der Ostukraine, keine Selbstverständlichkeit. Die Leichenhallen sind überfüllt, tote Kämpfer, Zivilisten. Die Zahl der Opfer steigt.
Vor den Toren der Stadt gehen die Artillerieduelle zwischen der ukrainischen Armee und den Separatisten ununterbrochen weiter. Am vergangenen Freitag waren in Donezk 13 Menschen bei einem Raketenangriff ums Leben gekommen - allesamt Zivilisten, die gerade Essensrationen bei einer Vergabestelle abholten.
Sofort machten die Rebellen die ukrainische Armee für den Angriff verantwortlich, die Ukrainer schoben die Schuld auf die Separatisten. Wechselseitige Vorhaltungen gehören zum Front-Alltag in der Ostukraine. Am Tod von Zivilisten in gegnerischen Gebieten ist immer der Feind schuld - sei es, weil er eigene Stellungen in Wohngebieten verschanzt oder weil er die eigene Bevölkerung beschießt, um die Toten als Opfer des Gegners darzustellen.
Schuld sind immer die anderen
Nach dem Angriff vom vergangenen Freitag sprach das ukrainische Verteidigungsministerium von einer "Provokation der Terroristen". Ukrainische Medien folgten dieser Darstellung. Russische Journalisten gaben den Ukrainern die Schuld.

Kriegsopfer in der Ukraine: Trauer, Wut, Hilflosigkeit
Am Wochenende eskalierten die Kämpfe. Am Eisenbahnknotenpunkt Debalzewo wurden mindestens zwölf Zivilisten getötet. Die Separatisten haben die Stadt und die dort stationierten Einheiten der ukrainischen Armee fast vollständig eingekesselt. Die Versorgung mit Lebensmitteln ist abgeschnitten, in der Stadt gibt es keinen Strom.
In den meisten Fällen ist eine unabhängige Prüfung der Vorwürfe nicht möglich, der Raketenangriff auf die strategisch wichtige, von der Kiewer Zentralregierung beherrschte Hafenstadt Mariupol war eine Ausnahme. Beim Beschuss eines Wohngebiets starben dort vorvergangene Woche 31 Menschen. Experten der OSZE waren vor Ort, analysierten die Schäden und machten die Aufständischen für den Angriff verantwortlich - jedenfalls kam der Beschuss aus dem Separatistengebiet. Die Rebellen selbst wiesen jede Schuld von sich und sprachen von einer Provokation der Ukrainer.
Die Opfer: nur Statisten
In der Propagandaschlacht, die neben den Kämpfen tobt, sind die Angehörigen der Opfer nicht viel mehr als Statisten. Eine von ihnen ist Tatjana Jefremowa. Nach dem Raketenangriff auf Mariupol steht sie vor dem Nichts. "In wenigen Minuten habe ich alles verloren: meinen Mann, mein Haus, mein Geschäft", erzählt die 38-Jährige. Unter ihrer Kapuze trägt die schmächtige Frau ein schwarzes Kopftuch. "Selbst die Jacke, die ich trage, habe ich geliehen. Alles ist verbrannt."
Der Angriff am vorvergangenen Samstag war großes Thema in ukrainischen Medien, ukrainische Politiker sprachen von einem "terroristischen Anschlag". Und Präsident Petro Poroschenko rief einen Trauertag aus. Russische Medien spielten den Angriff herunter, die Kreml-nahe Tageszeitung "Iswestija" erwähnte ihn zunächst gar nicht. Die Moskauer Regierungszeitung "Rossiskaja gaseta" tat den Raketeneinschlag als eine "neuerliche Provokation" ab, initiiert von der Kiewer Regierung, "um die Lage im Donbass zu eskalieren".
Wer wen provoziert haben soll, ist Tatjana herzlich egal. Ihren Mann Stanislaw bringt nichts mehr zurück. Sie hatte ihn in der Schule kennengelernt, 20 Jahre waren sie verheiratet. Der Enddreißiger war gerade beim Frühsport im Hof, als ihn Granatsplitter trafen.
"Stanislaws Gesicht war schrecklich anzusehen, ein Knochen ragte aus einem Bein heraus. Überall hörte man Schreie und Sirenen", erinnert sich Tatjana. Im Krankenwagen streichelte die neunjährige Alla ihren Vater. Ihre Hände waren voller Blut. Ihr Vater starb noch auf dem Weg in die Klinik.

Umkämpfte Gebiete im Osten der Ukraine
Foto: SPIEGEL ONLINE