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Putins Strategie in der Ukraine-Krise Der Undurchschaubare

Gibt Wladimir Putin der Diplomatie in der Ukraine-Krise wirklich eine Chance? Eine Finte ist nicht auszuschließen - und die Separatisten in der Ostukraine wollen weiterkämpfen. Den Worten des russischen Präsidenten müssen erst noch Taten folgen.

Für Wladimir Putins Verhältnisse sind es versöhnliche Worte: Russlands Präsident bittet die Separatisten in der Ostukraine, ihr Unabhängigkeitsreferendum fürs Erste zu verschieben. Die für den 25. Mai geplanten Präsidentschaftswahlen in der Ukraine nennt er einen "Schritt in die richtige Richtung".

Das Echo ist gewaltig. Russische Oppositionelle sehen einen Durchbruch in der Krise, der Westen schöpft neue Hoffnung. Außenminister Frank-Walter Steinmeier begrüßt die "konstruktive Tonlage", die der russische Präsident gewählt habe. Man sei jetzt "an einem vielleicht entscheidenden Punkt".

Vielleicht - darauf muss die Betonung liegen. Denn was Putins Worte wirklich wert sind, muss sich erst noch zeigen.

Schon Ende Februar hatte Steinmeier Putins Chefvermittler Wladimir Lukin für seinen Beitrag den Verhandlungen mit Wiktor Janukowytsch gelobt. Dann verließ Lukin Kiew, ohne das gemeinsam ausgehandelte Abkommen zu unterzeichnen. Auch die von allen Seiten begrüßte Übereinkunft von Genf scheiterte. Es fehlt nicht an schönen Worten, sondern an Taten.

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Ukraine: Vorbereitung auf das Referendum

Foto: ALEXEI NIKOLSKY/ AFP

Putins rhetorische Kurskorrektur kam auch für viele in Moskau überraschend. Kurz zuvor hatte Außenminister Sergej Lawrow noch gewütet, die Mitarbeiter seines Außenministeriums würden alles dafür tun, um eine "Wiederbelebung des Nazismus in Europa zu verhindern". Auch deshalb ist es zu früh, um eine Finte des Kreml auszuschließen.

Eine Beruhigung der Lage kurz vor Russlands pompösen Feierlichkeiten zum Tag des Sieges kommt Putin schließlich gelegen. Womöglich zeigt die Geste des Präsidenten aber auch: Der Kreml ist noch zugänglich für Verhandlungen.

Der Moskauer Außenpolitik-Experte Fjodor Lukjanow vermutet einen "intensiven Handel hinter den Kulissen". Das Referendum sei in diesen Verhandlungen "die wichtigste Waffe Moskaus". Wenn Putin also demonstrativ die Patronen aus einem bereits entsicherten Gewehr beiseite legt, tut er es womöglich nicht ohne Gegenleistung. Der Oppositionsaktivist Andrej Piontkowskij glaubt, dass die Sanktionsdrohungen des Westens zum Einlenken gebracht haben. Ilja Ponomarjow, der einzige Duma-Abgeordnete, der gegen den Anschluss der Krim stimmte, hält Putins Manöver für den Teil eines Deals.

Hoher Preis für die Ukraine

Der Preis des Friedens wäre für die Ukraine hoch: Im Gegenzug für Moskaus Einlenken und eine Entwaffnung der Separatisten müsste Kiew gegen den nationalistischen "Rechten Sektor" vorgehen, die neue Nationalgarde wohl wieder auflösen, einer weitreichenden Dezentralisierung zustimmen und darauf verzichten, die Ukraine in ein westliches Bündnis wie die Nato zu führen.

Putin hat zudem weitere Bedingungen gestellt, von denen er weiß, dass sich Kiew nur schwer darauf einlassen kann. Festgenommene Separatistenführer müssten freikommen und die Militäroperation in der Ostukraine sofort beendet werden.

Vielleicht ist Russlands Rückkehr zur Diplomatie nur taktischer Natur. Womöglich schrecken Putin tatsächlich die angedrohten Wirtschaftssanktionen. Wahrscheinlicher ist, dass der Kreml nach Monaten der Eskalation sein Verhalten und seine Rhetorik endlich der Realität anpasst.

Es ist für Russland ein Leichtes, die Ukraine zu destabilisieren: Moskau kann Gaslieferungen stoppen, Grenzen schließen oder Kämpfer einsickern lassen. Die Krise in der Ukraine aber gewaltsam für sich zu entscheiden überschreitet die Kräfte des Kreml. Militärisch könnte Russland wohl einen schnellen Sieg erringen, wirtschaftlich wären die Folgen aber katastrophal. Das Riesenreich steht schon jetzt am Rande einer Rezession.

Der oppositionelle Abgeordnete Ponomarjow diagnostiziert eine "Ernüchterung" bei seinen Kreml-treuen Kollegen. In der Zeitung "Iswestija" sprach sich Anfang der Woche sogar der konservative Vordenker Konstantin Satulin offen gegen militärische Abenteuer in der Ostukraine aus. Sie würden dem Westen nur einen Vorwand geben, alle Probleme in der Ukraine "auf Russland zu schieben".

Ende der Krise nicht abzusehen

Ein Ende der Krise ist aber immer noch nicht abzusehen, höchstens ein Weg zu ihrer schrittweisen Beilegung. Die Freischärler-Verbände in der Ostukraine agieren nach allem, was bislang bekannt ist, weitgehend unabhängig vom Kreml. Sie haben wenig gemein mit den "grünen Männchen" die auf der Krim die Macht übernahmen und sich später als disziplinierte Marine-Infanteristen entpuppten.

Im Umgang mit den Kämpfern hat der Kreml mehrere Möglichkeiten: Putin kann es bei diplomatischen Sonntagsreden belassen und sich zugleich darauf berufen, keinen Einfluss auf die Kämpfer zu haben. Dann wird die Ukraine-Krise weiter eskalieren.

Meint der Kreml es dagegen ernst, müsste er den Nachschub an Waffen und Freiwilligen aus Russland in die Ostukraine unterbinden. Die auch dort empfangbaren russischen Staatskanäle müssten aufhören, die Bevölkerung mit Schauermärchen gegen die angeblich "faschistische Junta" in Kiew aufzuhetzen. Kanzlerin Angela Merkel nahm Putin am Donnerstag in die Pflicht, den Druck auf die Separatisten zu erhöhen.

Denn die machen bisher keine Anstalten, sich zu ergeben. Putin hin, Putin her: Sie wollen ihre Referenden wie geplant am Sonntag abhalten.

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