Russlands Ukraine-Strategie Putin, der Guerilla-Krieger

Politiker, Journalisten, Beobachter im Westen rätseln: Was hat Putin in der Ukraine vor? Damit hat Russlands Präsident sein erstes Ziel schon erreicht: Seine Gegner sind verunsichert. Der Kreml-Chef hat den asymmetrischen Krieg entdeckt.
Wladimir Putin bei Militärübung: Asymmetrische Kriegsführung

Wladimir Putin bei Militärübung: Asymmetrische Kriegsführung

Foto: AP/ RIA-Novosti
Zur Person

Der Brite Mark Galeotti ist Professor für Internationale Politik an der New York University mit Spezialgebiet Russland. Dieser Text erschien im englischen Original zuerst bei "Business New Europe". Galeotti veröffentlichte ihn auch in seinem Blog "In Moscow's Shadow".Website von Business New Europe Blog von Mark Galeotti 

Guerilla-Kämpfer wissen, wie sie dem Gegner mit ihrer asymmetrischen Kriegsführung die Regeln aufzwingen, nach denen gekämpft werden soll: möglichst so, dass die andere Seite ihre überlegene Feuerkraft gar nicht erst zum Einsatz bringen kann. Wladimir Putin ist sich der massiven militärischen und wirtschaftlichen Überlegenheit der westlichen Allianz bewusst - und so zeigt er der Welt, dass er es meisterhaft versteht, die Asymmetrie der Kräfteverhältnisse für sich zu nutzen.

Die Annexion der Krim lief wie aus dem Guerilla-Lehrbuch ab: Putin schickte seine Eliteeinheiten los, in Uniformen ohne Abzeichen, um sich die Schlüsselpositionen der Macht zu sichern - politische Institutionen, Fernsehsender.

Die Tarnung war zwar schnell durchschaut, denn die anonyme Truppe war mit aktuellem Gerät aus russischen Beständen ausgestattet und fuhr sogar in Lastwagen mit russischen Kennzeichen vor. Doch die List verschaffte den Soldaten den entscheidenden Zeitvorsprung, um ihre Mission durchzuziehen. Dass sich auf den Straßen der Krim auch "echte" Aktivisten und Sturmtrupps tummelten, erleichterte ihnen ihr Vorgehen.

Die Regierung in Kiew war verunsichert: Waren diese Aktivisten ausländische Söldner? Oder einheimische Radikale? Oder ukrainische Soldaten, die auf eigene Rechnung unterwegs waren? Einen Moment lang verharrte die Übergangsregierung wie in Schockstarre. Als sie wieder zu sich kam, war es schon zu spät. Die Russen hatten das Heft fest in der Hand.

Parallel lief der politische Prozess: Würdenträger vor Ort verlangten nach russischem "Schutz", das aufgebrachte Volk sammelte sich auf den Straßen, dann kam es zum schnell durchgepeitschten Referendum. Bevor Kiew und der Westen wussten, wie ihnen geschah, war die Aufnahme der Krim in die russische Föderation besiegelt. Die internationale Anerkennung des Coups wird Moskau noch lange verwehrt bleiben. Aber für den Kreml zählt, was de facto erreicht wurde - nicht, was de jure Bestand haben wird.

Was für den Kreml zählt

Das Vorgehen in der Ostukraine unterscheidet sich in wichtigen Details von dem auf der Krim - weil der Kreml dort etwas anderes vorhat. Die Vorstellung, alle russisch geprägten Regionen unter einer Regierung in Moskau zu vereinen, mag Putin vielleicht auf einer emotionalen Ebene berühren - aber es treibt ihn bestimmt nicht an. Anders als die Krim weisen die Regionen in der Ostukraine einen beträchtlichen Anteil an ukrainischer Bevölkerung auf, und obgleich es ihnen wirtschaftlich relativ gutgeht, würde ihre Aufnahme in die Russische Föderation den eh schon überspannten russischen Staatshaushalt stark belasten.

Ganz abgesehen davon, dass asymmetrische Kriegsführung niemals einem so überambitionierten und allzu offensichtlichen Ziel folgen würde. Würde Moskau nach der Krim jetzt auch noch die Ostukraine annektieren, brächte dies unweigerlich den Westen auf den Plan: In diesem Fall rechne ich tatsächlich mit einem Eingreifen der Nato. Die Militärallianz würde Truppen in der Ukraine stationieren, um einen weiteren Vormarsch der Russen zu verhindern, und Kiew militärisch und wirtschaftlich weiter unterstützen.

Putins Ziel: eine geschwächte Ukraine

Was Putin sich eher wünscht, ist eine geschwächte Ukraine, möglichst mit einer neuen föderalen Struktur, die sich damit abfindet, dass sie zum Einflussbereich Moskaus gehört. Das bedeutet: keine engere Anbindung an EU oder Nato, dafür aber Mitgliedschaft in einer von Russland geführten eurasischen Zollunion. Gleichzeitig sollen die Ostprovinzen so viel Unabhängigkeit erhalten, dass ihre Eliten innerhalb des Systems weiter Moskau zu Diensten sein können.

Putin macht das sehr geschickt: Er hat großes Getöse um den Osten der Ukraine gemacht, als es ihm eigentlich um die Krim ging - und dann kam es dem Westen gar nicht mehr so schlimm vor, dass nur die Halbinsel an Moskau verlorenging. Jetzt dasselbe Muster: Am Ende wird dem Westen die Finnlandisierung der Ostukraine wie das kleinste Übel vorkommen. Der mächtige Nachbar muss gar nicht einmarschieren - er bestimmt auch so, wo es langgeht.

Der entscheidende Kniff in Putins Strategie ist es, alles möglichst im Ungefähren zu lassen, alles jederzeit dementieren zu können. Und dann entweder schnell zuzuschlagen, wie auf der Krim, oder sich in kleinen Schritten vorzutasten, die so bedeutungslos wirken, dass jede mögliche Gegenwehr als brutaler Overkill erscheint.

Kiew könnte selbstverständlich mit seinen Soldaten massiv gegen die prorussischen Aktivisten vor Ort vorgehen. Doch mit einer heftigen Reaktion würde man den Russen möglicherweise nur den Vorwand für einen Einmarsch russischer Truppen liefern.

Natürlich sind die Russen da

Und wenn Kiew agiert, als habe man es mit einem ausgewachsenen Bürgerkrieg zu tun und nicht mit dem Ausbruch lokalen Rowdytums, spielt die Regierung erst recht den Russen in die Hände, die in der Ukraine einen "failed state" sehen, der in die Anarchie abgleitet. In einem solchen Fall wäre Moskau selbstverständlich verpflichtet, seinen Landsleuten im Nachbarland zu Hilfe zu eilen.

Sind also russische Soldaten und Agenten auf ukrainischem Boden, wie Kiew und US-Außenminister John Kerry nicht müde werden zu versichern, die den Unfrieden am Köcheln halten, indem sie immer wieder neue Attacken anzetteln?

Ich habe die Fotos von den angeblichen Russen studiert - und keiner wirkte auch nur annähernd so russisch wie die anonym Uniformierten auf der Krim, und professionell wirkten die sogenannten Paramilitärs auch nicht unbedingt. Was an Uniformen und Waffen zu sehen war, könnte genauso gut aus ukrainischen Beständen stammen - angesichts der vielen Überläufer aus der Polizei ist das nicht unplausibel.

Dennoch gehe ich davon aus, dass die Russen schon längst in der Ukraine sind - aber wie es sich für gute Guerillakämpfer gehört, wissen sie selbstverständlich, wie man untertaucht.

Putins Taktik geht auf

So sieht also Putins geopolitische Guerilla-Taktik aus - und bis jetzt geht sie auf. Denn Konflikte werden heute nicht mehr zwischen großen, ungefähr gleichstarken Blöcken ausgetragen, die sich an einen Kodex ungeschriebener Gesetze halten. Wir sind nicht mehr im Kalten Krieg, es gibt die großen ideologischen Gräben nicht mehr, die uns die Orientierung so viel leichter gemacht haben.

Eher kann man die Situation heute mit der Blütezeit des imperialen Wettstreits zwischen Großbritannien und Russland vergleichen, als es um die Vorherrschaft in Zentralasien ging. Wie in diesem "Großen Spiel" ist heute alles erlaubt - verdeckte Operationen, die sich wunderbar abstreiten lassen, diplomatische Täuschungsmanöver, wirtschaftliche Erpressung, Propaganda in jeder Form, Spionage oder Cyberattacken.

Zu einem erfolgreichen Schlag braucht es nicht immer Militär: Im entscheidenden Moment ein abgehörtes Telefonat durchsickern zu lassen, kann in seiner Wirkung viel verheerender sein als die Fliegerstaffel eines Flugzeugträgers - fragen Sie nur Victoria Nuland.

In diesem neuen verdeckten Krieg werden Spione und Spin-Doktoren mindestens so wichtig sein wie Panzer und Hubschrauber. Wer heute eine Auseinandersetzung gewinnen will, muss improvisieren können, rücksichtslos vorgehen - und das Ziel nicht aus den Augen verlieren.

Und wenn wir ehrlich sind, müssen wir uns eingestehen, dass sich im Moment niemand so gut auf dieses Geschäft versteht wie Wladimir Putin und sein Russland.


©Mark Galeotti, New York University, 2014

Übersetzung: Olaf Kanter
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