Ukraine-Konflikt Wenn Hysterie brandgefährlich wird

Kann eine mögliche Falschmeldung aus einem Konflikt einen Krieg entzünden? In der Ukraine-Krise scheint die Gefahr nach dem angeblichen Angriff eines russischen Militärkonvois größer denn je.
Screenshot von Tweet eines "Guardian"-Journalisten: Regelmäßige Kolonnen

Screenshot von Tweet eines "Guardian"-Journalisten: Regelmäßige Kolonnen

Freitagabend mussten Zuschauer und Leser im Westen glauben, in der Ostukraine sei der Casus Belli erreicht: Eine Meldung von der teilweisen Vernichtung eines "russischen Militärkonvois" auf ukrainischem Gebiet durch die ukrainische Armee machte die Runde. Auch SPIEGEL ONLINE griff die Nachricht auf und sprach von einem Angriff auf den Militärkonvoi. Nato-Generalsekretär Anders Fogh Rasmussen "bestätigte" in seiner wie üblich vorpreschenden Art sofort den "Einfall" der russischen Armee in die Ostukraine. Die Amerikaner sprachen ebenfalls von einer "russischen Militärintervention". Weltweit rutschten die Börsenkurse ab.

Es war ein Beispiel, wie in diesem Krieg Hysterie immer mehr die sachliche Analyse der Situation verdrängt. Hysterie ist in militärischen Konflikten wie diesem brandgefährlich.

Zuerst war kurzzeitig sogar davon die Rede, der inzwischen berühmte weiße russische Hilfskonvoi sei angegriffen worden. Das nun war völliger Unsinn, dieser Konvoi ruhte sich zu jener Zeit auf einem Feld in der Nähe der ukrainischen Grenze aus - auf russischem Gebiet. Dann korrigierten sich die Agenturen und berichteten, es sei ein Konvoi von 23 Militärfahrzeugen gemeint, die im Morgengrauen über die Grenze in die Ukraine gefahren seien - Journalisten vom "Daily Telegraph" und vom "Guardian" hatten sie beobachtet. Diese russische Kolonne sei dann von den Ukrainern angegriffen worden. "Militärintervention in der Ukraine" titelten Agenturen und Online-Dienste.

Sortieren wir die Dinge etwas auseinander. Was offensichtlich stimmt, ist, dass die englischen Kollegen mit ihren Kameras den Konvoi beim Grenzübertritt erwischten. Es war Donnerstagabend, nach Sonnenuntergang - die Absender der Kolonne hatten möglicherweise nicht bedacht, dass wegen des anderen, des Hilfskonvois, ziemlich viele westliche Journalisten in der Nähe sind.

Ist die Kolonne wirklich vernichtet worden?

Das aber war auch wohl die einzige Neuigkeit. Militärkolonnen wie diese überqueren seit Beginn des Konflikts fast jeden Tag die russisch-ukrainische Grenze und fahren in die "Volksrepubliken" von Donezk und Luhansk, um dort die Separatisten zu unterstützen. Es ist kaum anzunehmen, dass am Steuer der Fahrzeuge russische Soldaten sitzen - es dürften russische Freiwillige oder Rebellen sein. Ist die Kolonne vom Freitagmorgen aber auch wirklich "vernichtet" worden, wie behauptet wurde?

Das ist eher fraglich. Komischerweise war vom Kiewer Stab der sogenannten Anti-Terror-Operation dazu stundenlang nichts zu hören. Erst gegen Abend meldete das Büro von Präsident Petro Poroschenko - und nicht etwa der zuständige Militärstab - die "teilweise" Vernichtung der Kolonne. Bilder davon hat die Regierung in Kiew bis heute nicht vorgelegt, auch die Amerikaner haben offenbar keine. Die besagte Kolonne ist inzwischen zudem von allen ukrainischen Nachrichtenseiten verschwunden.

So bleibt der Eindruck: Ja, den Einmarsch der 23 Fahrzeuge hat es tatsächlich gegeben, den Angriff möglicherweise aber nicht. Denn Kiew reagierte überhaupt erst, nachdem die Meldungen der beiden britischen Korrespondenten die Runde gemacht hatten. Eigentlich sollte es umgekehrt sein: Die eigene Aufklärung stellt das Eindringen der Fahrzeuge fest und berichtet darüber der Öffentlichkeit.

Die ukrainische Agentur UNIAN meldete aber erst um 12.06 Uhr, der "Anti-Terror-Stab" habe - offenbar auf Nachfrage - das Eindringen russischer Militärfahrzeuge "bestätigt". Sie seien "nicht sehr zahlreich" gewesen, die genaue Zahl der gepanzerten Wagen und Lkw festzustellen, sei "den Aufklärern nicht gelungen". Erst um 17.51 Uhr zitierte die Agentur die Worte von Präsident Poroschenko, wonach "ein bedeutender Teil der eingedrungenen Militärtechnik" zerstört worden sei.

Hatte Kiew hier auf einmal nur die Chance erkannt, einen großen Propagandacoup gegen Russland zu landen? Und auf diese Weise, wie sich dann herausstellte, erst so richtig Öl ins Feuer gegossen und die ganze Welt in Aufruhr gebracht? Beobachter in Donezk konnten in den vergangenen Tagen mehrfach die Feststellung machen, dass so manche Mitteilung der Kiewer Militärs nicht stimmt. Oder zumindest nicht exakt ist.

Vermutlich werden wir die Wahrheit über den Militärkonvoi nie erfahren. Wie so vieles nicht, was in diesem Krieg wirklich passiert. Die ukrainische Seite zeichnet sich nicht gerade durch Besonnenheit aus, die russische steht in ihrer Hysterie der ukrainischen jedoch in nichts nach.

Besonnene gegen Unbesonnene

Die eigentlich interessante Meldung vom Freitag war denn auch eine ganz andere: Das Moskauer Außenministerium meldete plötzlich, ukrainische Kämpfer beabsichtigten, den Weg des großen Hilfskonvois nach Luhansk zu verminen, um die Lastwagen und das Personal zu vernichten. Das war eine sehr ungewöhnliche, undiplomatische Meldung, denn mit Spekulationen beschäftigt sich ein Außenministerium normalerweise nicht.

Nur wenig später meldete dasselbe Ministerium, der russische und der ukrainische Außenminister hätten sich telefonisch über die Hilfslieferungen verständigt, sie wollten sich zudem dieses Wochenende in Berlin treffen. Weiß hier die eine Hand nicht mehr, was die andere macht? Heizen im selben Ministerium die einen die Lage mit spekulativen Behauptungen an, während die anderen nach diplomatischen Lösungen suchen?

Unübersehbar ist: In Kiew wie in Moskau gibt es Besonnene und Unbesonnene. Und es wird immer schwieriger, in diesem Krieg in der Ostukraine Wahres von Unwahrem zu unterscheiden. Darin liegt eine zusätzliche Gefahr, dass der Konflikt völlig außer Kontrolle gerät.

Anmerkung der Redaktion: In einer früheren Version des Artikels hieß es, dass die englischen Kollegen mit ihren Kameras den Konvoi beim Grenzübertritt am Freitagmorgen fotografierten. Dies geschah aber am Donnerstagabend. Wir bitten, den Fehler zu entschuldigen.

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