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Altersarmut: Die Formel für Elend

Foto: Till Mayer

Altersarmut in der Ukraine Schutzengel der Einsamen

Alt und arm - das ist in der Ukraine die Formel für Elend. 80 Prozent der Rentner bekommen nur die kärgliche Mindestrente. Im Winter, wenn der eisige Wind durch die Fenster zieht, ist ihre Not besonders groß. Für viele ist die Krankenschwester vom Roten Kreuz der einzige Kontakt zur Außenwelt.

Die Straße ist eine einzige Eisbahn. Tags zuvor hatte es ein wenig getaut, dann kam wieder Frost und jetzt... Chaos. Olha Roman marschiert über das Eis, als hätte sie Spikes an ihren alten Stiefeln. Die hat sie mit viel Schuhcreme wasserdicht gemacht. Doch das Leder wird langsam rissig.

Auf der Straße schlingern die Autos vorbei, hinter ihr schlittern kichernd Teenager über den Gehweg. Der wird, wie so viele in der Stadt, den ganzen Winter nicht geräumt. Selbst die Bäume sind heute von einer Eisschicht überzogen.

Die 71-Jährige hält tapfer Schritt, ohne zu wanken. In der Rechten hält sie eine große Handtasche, die fast das Eis berührt: "Es ist alles drin, was ich für meine Patienten brauche. Die Spritzen und natürlich das Blutdruck-Messgerät." Manchmal kauft sie sogar noch etwas ein, für ihre "Alten".

Olha Roman ist selbst eine betagte Dame. Mit 71 Jahren wohl eine der ältesten Krankenschwestern Europas, die noch solch schweren Dienst leisten. Seit 51 Jahren ist sie beim Roten Kreuz. Dafür gab es vergangenes Jahr einen Orden samt Urkunde. Beides hängt jetzt gerahmt im Wohnzimmer.

Eine kleine Zeitreise

"Da bin ich stolz darauf, genauso wie auf meinen Beruf", sagt die alte Dame in ihrem dicken Wintermantel und streift sich das Rotkreuz-Leibchen darauf zurecht. Wer Olha Roman auf ihrem täglichen Berufsweg begleitet, marschiert drei bis vier Stunden. Fährt mit zerbeulten Bussen, die schon über das Kopfsteinpflaster ratterten, als in Lemberg noch rote Fahnen mit Hammer und Sichel wehten. Und er kann mit ihr eine kleine Zeitreise erleben, Menschen kennenlernen, die viel erdulden mussten und im Alter jetzt oft bittere Armut ertragen.

Prochorowa Paraskowja zum Beispiel. Fünfter Stock in einer grauen Wohnkaserne, Block reiht sich hier an Block. Der Besuch bei der 85-Jährigen bringt Olha Roman jedes Mal zum Schnaufen, wenn sie durch das dunkle Treppenhaus Stufe für Stufe zu ihr erklimmt.

Rentnerin Paraskowja wurde in Stalingrad geboren. Als der Krieg über ihre Stadt fegte wie ein Orkan, Häuserzeile für Häuserzeile in Ruinen verwandelte, gelang ihrer Familie die Flucht. Letzte Station war dann schließlich Lemberg, das gerade an die Sowjetunion gefallen war. 40 Jahre arbeitete sie in einem Kombinat als Buchhalterin. Ihre Liebe fand sie nicht. "Das war mein Schicksal. Nach dem Krieg gab es so wenig Männer", meint die alte Dame traurig. Jetzt ist sie alleine.

So sitzt sie Tag für Tag in ihrer bescheidenen Wohnung in einem Außenbezirk auf dem durchgesessenen Sofa. Darüber hängt der typische Wandteppich mit Jesusbildchen und Kruzifix. In der Küche brennen zwei Flammen auf dem Gasherd, damit es ein wenig wärmer wird in den knapp 25 Quadratmetern Wohnraum. Durch die Fenster zieht ein eisiger Wind. Das Gemüt erwärmt auch nicht der Blick auf den Hof darunter. Es herrscht postsozialistische Wintertristesse vor vergammelten Wohnblocks.

Alles hier hat wenig gemein mit der Schönheit des historischen Stadtzentrums, das für die Fußball-EM besonders herausgeputzt wurde. Prochorowa Paraskowja war schon lange nicht mehr dort. Sie vermisst die schöne Altstadt, die prächtigen Häuser.

Viele ukrainische Rentner leben in bitterer Armut

Aber die Arthritis macht jeden Ausflug unmöglich. Manchmal fühlt sich die alte Dame in ihren eigenen vier Wänden wie eine Gefangene. Ab und an lässt sich ein Verwandter blicken. Oder jemand vom Sozialamt erledigt einen Einkauf für sie. Und dann ist da ja noch ihre Rotkreuz-Schwester Olha Roman. "Gut, dass ich sie habe. Sie cremt mir meinen Rücken und die Beine ein, gibt mir meine Spritze und vor allem: Sie nimmt sich immer Zeit. Wissen Sie, sie versteht mich einfach", schwärmt die 85-Jährige.

128 Euro Rente bezieht die alte Dame. "Ich will nicht klagen, andere haben noch weniger. Wenn bloß die Lebensmittel nicht immer teurer werden würden", sagt sie. Und wenn sie die Arthritis nicht so plagen würde. Zum Leben reicht es gerade so für die Rentnerin. "Andere Rentner müssen mit viel weniger im Monat auskommen. Zum Glück haben wir da dank deutscher Spenden in Lemberg einen Nothilfe-Fonds für Medikamente. Dann können wir in besonders harten Fällen helfen. Wenn das die alten Leute auch noch selber zahlen müssten...", sagt die Krankenschwester. Den Fonds hatten SPIEGEL-ONLINE-Leser im Jahr 2011 durch ihre Spenden in Leben gerufen. Alte Menschen in Not erhalten durch ihn kostenlose Medikamente.

Rund 80 Prozent der Rentner in der Ukraine bezogen 2012 die kärgliche Mindestrente von 81 Euro. Wer im hohen Alter nicht auf die Unterstützung seiner Familie bauen kann, lebt in bitterster Armut. Vereinsamte aber noch rüstige alte Rentner werden vom Roten Kreuz in Lemberg immer wieder auf Kuchen und Kaffee zu einer Seniorenrunde in das Medico-Soziale-Zentrum (MSZ) eingeladen. Viele der MSZ-Klienten sind KZ-Überlebende. In den Lagern oft sterilisiert, haben sie nun keine Kinder und Enkel, die sie im hohen Alter unterstützen. Das MSZ kann nur eine kleine Hilfe bieten, die den Teilnehmern aber viel bedeutet. Auch das machen Spenden aus Deutschland und die Unterstützung durch den DRK-Landesverband "Badisches Rotes Kreuz" möglich.

Altersarmut ist für Krankenschwester Roman schlichtweg eine Schande. "Nach all dem, was diese Menschen durchgemacht haben. Krieg, Diktatur, den Systemwechsel. Und jetzt müssen sie jede Kopeke zwei Mal herumdrehen. Und selbst dann reicht es oft nicht. Vor dem Alter sollte man doch Respekt haben", schimpft die Rotkreuz-Schwester.

Gute Winterstiefel? Ein Luxus

Dabei geht es ihr selbst kaum anders. 112 Euro verdient sie monatlich als Krankenschwester. Dann hat sie noch ihre Rente, die deutlich geringer ausfällt, als die von Frau Paraskowja. Mit beiden zusammen kommt sie halbwegs über die Runden. Ihr Mann bezieht ebenfalls eine nur schmale Rente. "Wenn ich nicht mehr arbeiten kann, werden wir noch mehr sparen müssen", sagt die alte Rotkreuz-Dame. Ein paar gute neue Winterstiefel bleiben für sie schon jetzt Luxus: "Das kann ich mir einfach nicht leisten."

Sicher, wenn sie das Geld nicht dringend bräuchte, Frau Roman würde nicht mehr Tag für Tag Kilometer für Kilometer marschieren. "Na ja, ganz aufhören würde ich wohl nicht. Als Krankenschwester bleibt man jung", lacht sie. Aber gerade im Winter, wenn die Kälte durch den Mantel sticht, würde sie doch lieber mit dem Mann zusammen gemütlich auf dem Sofa sitzen und einen heißen Kaffee trinken.

"Das Problem ist, dass viele junge Frauen nicht mehr als Rotkreuz-Krankenschwestern arbeiten wollen. Sie bewerben sich dann lieber in einer Privatklinik oder bekommen mit Glück Arbeit in Deutschland", erklärt die 71-Jährige, als sie schon wieder auf dem Weg ist und flotten Schrittes über Eis und Schnee läuft. Vor über 50 Jahren, als sie als Krankenschwester anfing, "da war das ein so geachteter Beruf. Nach Geld fragte damals niemand", so die alte Dame. Doch sie weiß, wenn eine Frau heute als Krankenschwester arbeitet, muss der Mann deutlich mehr verdienen. Sonst kann kein Paar anständig eine Familie ernähren. Trotzdem hofft sie, dass ihre Enkelin auch Krankenschwester wird. "Sie ist jetzt in der siebten Klasse. Und neulich hat sie gesagt, sie würde gerne das Gleiche machen wie ich", berichtet eine stolze Oma.

Dann sperrt sie beim nächsten Großmütterchen die Türe auf. Die alte Dame kann nur schwer aufstehen. Aber für die Krankenschwester gibt es eine Umarmung. Selbst die scheue Katze kommt, um sich eine Streicheleinheit abzuholen. Frau Vira Tscherkasova erzählt von längst vergangenen Tagen. Von einem Urlaub am Meer, den sie sich früher leisten konnte. Den hatte das Kombinat organisiert. Doch schon allein der Gedanken an Strand und Meer verpufft schnell in dem kargen Zimmer. Die alte Dame bräuchte viel mehr Hilfe, als sie ihr Olha Roman geben kann. Sie ist ein Pflegefall, hat schon lange nicht mehr die Kraft, die Wohnung in Schuss zu halten. Das sieht und riecht der Besucher.

"Sie ist einfach ein Schutzengel"

Vira Tscherkasova hat eine kleine Träne in den Augen, als die Krankenschwester sich verabschiedet. "Sie ist wie meine Schwester", sagt die 74-Jährige über die 71-Jährige. Über das Gesicht von Olha Roman huscht ein Lächeln.

20 Minuten Fußweg später gibt es ein noch größeres Lob. Die Rotkreuzmitarbeiterin versorgt dort ein Ehepaar. Vor allem der 74-Jährige braucht nach einem Schlaganfall Hilfe. Aber erst einmal will er dem Journalisten sagen, was er von seiner Krankenschwester Olha Roman hält: "Wissen Sie, sie ist einfach ein Schutzengel. Ja, ein richtiger Engel", sagt Wolodymir Kolodiy. Der ehemalige Ingenieur meint es ernst. Draußen vor der Türe warten wieder Eis und Schnee und werden dem begleitenden Journalisten zum Verhängnis. Endstation Hosenboden.

Krankenschwester Olha Roman kommt schnellen Schrittes heran. Ein sorgenvolles Gesicht: "Brauchen Sie Hilfe?", fragt die 71-Jährige und packt beim Aufstehen gleich mit an.


2011 bewegte die SPIEGEL-ONLINE-Reportage "13 Quadratmeter Elend" viele Leser. Durch ihre Spenden konnte ein Medikamentenfonds des Roten Kreuzes für Rentner in Not geschaffen werden. Das Spendenkonto hat der DRK-Landesverband "Badisches Rotes Kreuz" eingerichtet, es fallen keine Verwaltungskosten an. Seit über 15 Jahren unterstützt der DRK-Landesverband zudem des Medico-Soziale-Zentrum des Lemberger Roten Kreuzes, das eine Anlaufstelle für KZ- und Gulag-Überlebende sowie vereinsamte Rentner bietet. Hier ist weiter ein Stützpunkt der Rotkreuz-Krankenschwestern zu finden.

Für Spenden:
DRK-Landesverband "Badisches Rotes Kreuz"
Konto 12 387 649 BLZ 680 501 01
Sparkasse Freiburg Nördlicher Breisgau
Verwendungszweck: Ukrainehilfe

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