Vor der Abstimmung in der Ukraine Iljas Wahl - Heimattreue oder Auslandsglück?

Ilja Jurtschenko
Foto: Maxim Sergienko/SPIEGEL ONLINEGenug ist genug. Ilja Jurtschenko schreibt mit einem schwarzen Stift auf ein weißes Blatt Papier: "Trebuju sarplatu" - "Ich fordere mein Gehalt". Dahinter setzt er das Kürzel OPS. Das steht für "Odeskyj Pryportowyj Sawod" - das Hafenwerk Odessa, für das Ilja seit seinem Studium arbeitet.
Es ist einer der größten Düngerhersteller der Ukraine. Aber schon seit Monaten stehen große Teile der Anlage im Süden des Landes still. 30 Tage hat der Chemiker kein Gehalt mehr gesehen, 30 Tage hat man den Familienvater immer wieder vertröstet.
Ilja - schwarzer Pullover, ernster Blick - hält sein Schild in die Kamera. Ein Kollege drückt auf den Auslöser. Ilja postet das Bild auf Facebook, es wird Hunderte Male geteilt. Er wird einer der wenigen bleiben, der Ende des Jahres so öffentlich sein Geld einfordert.

Ilja Jurtschenko: "Ich fordere mein Gehalt" - Aktion auf Facebook
Foto: privatAngst. "Viele Kollegen sind verängstigt", sagt der 32-Jährige. Es ist die Furcht, die Arbeit bei der OPS zu verlieren - und damit den letzten Halt. Etwa 4000 Menschen waren in dem Werk tätig, heute sind es noch rund 2700. Die Gehälter werden, wenn überhaupt, verspätet ausgezahlt. Vergangene Woche bekam Ilja zumindest einen Teil seines Februar-Verdienstes. Es wurde Kurzarbeit im Hafenwerk verordnet, Gehälter wurden gekürzt. Viele fahren nun nebenbei Taxi, erledigen Reparaturen.
"Angst, mich zu äußern, habe ich nicht", sagt Ilja. Er stimmt, ohne zu zögern, einem Treffen mit dem SPIEGEL zu. "Ich finde schon irgendwie Arbeit." Nur wo?
Krise. Wer Odessa an der Schwarzmeerküste in Richtung Osten verlässt, kommt irgendwann an dem riesigen Gelände des Hafenwerks Odessa vorbei. Ende Februar kann sich das Wetter noch nicht so recht entscheiden: Mal scheint die Sonne, mal schneit es. Die zwei großen Harnstoff-Aggregate des OPS, oben rot-weiß angestrichen, lassen sich im Grau des Schnees an diesem Tag nur erahnen.
Seit knapp einem Jahr sind die meisten Anlagen heruntergefahren. Die Produktion ist nicht mehr rentabel. Zu viel kostet inzwischen das Gas, das für die energieintensive Produktion des Stickstoffdüngers notwendig ist.

Ukraine vor der Präsidentschaftswahl: Heimat oder Ausland?
In Juschne ("Südliche"), einer Kleinstadt mit 32.000 Bewohnern, wirbelt der Wind die Schneeflocken an den neunstöckigen Plattenbauten vorbei. "Verkaufe Wohnung, zwei Zimmer", steht auf Zetteln an den Hauseingängen. Ilja zieht sich eine Mütze über den Kopf, stapft rüber zu seinem Haus.
Hier in Juschne ist er geboren. Ilja ist Chemiker in dritter Generation, Experte für anorganische Verbindungen, ein Dünger-Spezialist.
Seine Heimatstadt gibt es erst seit knapp 46 Jahren, damals erbaut, um die Arbeiter der benachbarten Industrieanlagen unterzubringen.

Sportzentrum "Olimp"
Foto: Maxim Sergienko/ SPIEGEL ONLINEIm Zentrum, wenige hundert Meter von Ilja entfernt, steht eine Art Ufo mit blauem Dach - das örtliche moderne Sportzentrum "Olimp", gebaut mit OPS-Geld. Eine Erinnerung an die guten Zeiten des Werkes. Ilja spielt dort Basketball.
Die Krise des OPS ist auch die Krise von Juschne, in fast jeder Familie des Ortes war und ist jemand im Hafenwerk beschäftigt. Jahrzehntelang garantierte die Arbeit dort sehr gute Gehälter. Als Ilja im Werk vor elf Jahren anfing, lag der Durchschnittsverdienst bei rund 10.000 Hrywnja. Damals waren das über 940 Euro, heute rund 330 Euro.
Die Mitarbeiter erhielten Sonderzahlungen und Fortbildungen. Man produzierte für den Export, lieferte Dünger für die Landwirtschaft in die Türkei und nach Finnland. Heute exportiert man Arbeitskräfte.

Ilja an einem Eingang seines Blocks
Foto: Maxim Sergienko/ SPIEGEL ONLINEIlja weiß nicht, ob er bleiben oder es vielen anderen gleich tun soll, die Juschne schon verlassen haben: nach Algerien zum Beispiel, wo Chemikern 2000 Dollar im Monat geboten werden; nach Tschechien oder Polen, wo schon eine ehemalige Schweißer-Brigade des Werkes arbeitet. Bis zu neun Millionen Ukrainer sollen nach Angaben der Behörden zeitweise oder dauerhaft im Ausland tätig sein.
Ilja bezeichnet sich als Patriot - als einen, der in den vergangenen Monaten schwer hadert. Dabei ist der Vater von zwei Kindern, einem vierjährigen Sohn und einer zwei Monate alten Tochter, eigentlich Optimist. Er will es bleiben.

Das Odessa-Hafenwerk
Foto: Yuriy Logvinenko/ ASSOCIATED PRESS"Wir sind Geiseln der Lage", sagt der junge Mann. Damit meint er das ewige Hin und Her im Hafenwerk. Das Unternehmen gehört mehrheitlich dem Staat, wird vom sogenannten Staatseigentumsfonds verwaltet, einer Behörde, die sich um den Besitz des Landes kümmert. Sie wollte das Werk seit Jahren privatisieren, senkte sogar den Verkaufspreis. Dann sollte die Anlage vermietet, später geschlossen werden. Seit Jahren geht das so. Ilja spricht ruhig darüber - auch als er sagt, dass eine Privatisierung vor allem jenen zugutekomme, die damit beschäftigt seien. Es gehe schließlich um viel Geld.
In den vergangenen Jahren wurden Verträge mit Firmen unterzeichnet, deren Verflechtungen nicht immer eindeutig sind, vor allem über Gaslieferungen. Doch nicht immer wurde so viel Gas geliefert wie vereinbart. Es gab Klagen, auch die Antikorruptionsbehörde ermittelte.
In Juschne versucht man derweil irgendwie durchzuhalten.

Ilja an seinem Arbeitsplatz: Oft ist er in letzter Zeit nicht dort
Foto: Aleksej A.Die große Politik . Jahrzehntelang hatte der ukrainische Staat Gas subventioniert. Was er nun nach dem Willen des Internationalen Währungsfonds, der Kiew Milliardenkredite gewährt hat, nicht mehr darf (mehr zur wirtschaftlichen Lage der Ukraine finden Sie hier). Der Gaspreis ist für die privaten Verbraucher seit 2014 um das Siebenfache gestiegen. "Für die Industriebetriebe um das Dreifache. Für unser Werk geht es um die Existenz", sagt Ilja.
"Wir brauchen eine politische Entscheidung, wir sind ein staatliches Unternehmen", fordert Ilja. "Aber keiner will die Entscheidung treffen." Schon gar nicht vor der Präsidentschaftswahl. Für Amtsinhaber Petro Poroschenko geht es ums politische Überleben, er muss den Einzug in die Stichwahl schaffen, in den Umfragen führt der Komiker Wolodymyr Selensky.

Poroschenko hat das Thema Hafenwerk seinem örtlichen Gouverneur überlassen. Der hat dafür gesorgt, dass das Werk von einer anderen Behörde geführt werden soll. Was das aber genau für die Zukunft des Unternehmens bedeutet, ist noch unklar. Nach Juschne ist Poroschenko im Wahlkampf nicht gereist, dafür kam seine Herausforderin Julija Tymoschenko. Sie erklärte den Bewohnern, sich im Falle ihrer Wahl persönlich um die Privatisierung des Hafenwerkes zu kümmern.
Hoffnung. Viele klammern sich an solche Versprechen. Ilja schüttelt den Kopf. "Julija ist eine starke Populistin, nichts weiter." Ihm gefällt die politische Kultur in seinem Land nicht.
"Denk doch noch mal darüber nach", haben sie in Poroschenkos Partei gesagt, als er ablehnte, sich ihnen bei den örtlichen Wahlen in Juschne anzuschließen. Auch Tymoschenkos Partei "Vaterland" hatte ihn angefragt, bei sich im Wahlteam mitzumachen. "Da muss ich nicht nachdenken. Das sind Projekte von oben, Projekte einzelner Menschen. Julija ist eine Monarchin, sie muss unbedingt noch Zarin werden. Poroschenko ist genauso. Das gefällt mir nicht." Wen er wählt, will er lieber für sich behalten.

Ilja im Büro seiner Hausgemeinschaft
Foto: Maxim Sergienko/SPIEGEL ONLINEIlja glaubt an flache Hierarchien, an Bürger, die sich zusammenschließen, weil sie etwas bewegen wollen. Wie etwa die Hausgemeinschaft, der er vorsitzt. 300 Menschen leben in seinem Block. Sie haben angefangen, ihr Gebäude zu sanieren, Fenster auszutauschen, Leitungen zu erneuern, auch mit Zuschüssen vom Staat, um Energie zu sparen. Inzwischen kümmert sich Ilja noch um ein zweites Haus, einige Meter entfernt.
Im Sommer organisierte er ein Freiluftkino, Dutzende Kinder schauten abends auf einer Wand im Hof Zeichentrickfilme. Der 32-Jährige wurde für seine Arbeit, für die er etwas Geld - rund 200 Euro - bekommt, von der Stadt ausgezeichnet. Er kann es gerade gut gebrauchen.

Ilja vorne l. mit Plakat in Kiew: "Herr Präsident, braucht das Land kein funktionierendes Hafenwerk Odessa???"
Foto: privatIlja nennt sich Aktivist - wohl auch im Vergleich zur Mehrheit in seinem Ort, die überwiegend passiv verharrt. In der Stadt gab es kaum Proteste. Ilja ist seit fünf Jahren Mitglied in der Gewerkschaft und Vorsitzender in seinem Produktionsbereich. Was seine wirkliche Aufgabe ist, hat er erst langsam verstanden. Gewerkschaften gelten auch in der Ukraine oftmals noch als Teil der Geschäftsführung.
"Wir sind aber dafür da, von der Leitung Informationen einzufordern und sie an die Mitarbeiter weiterzugeben", sagt Ilja. Er war sogar in Dänemark, um auf einem Seminar Gewerkschaftsarbeit zu lernen. "Wir leben in Zeiten des Umbruchs, keiner traut dem anderen. Es gibt so viele Gerüchte, das ist nicht gut."
Zukunft. Finanziell würde es auf jeden Fall einfacher im Ausland werden, sagt Ilja. Er hat Angebote aus Dänemark bekommen, aber in anderen Bereichen. "Ich müsste bei null anfangen", sagt er, seine Diplome als Chemiker würden nicht anerkannt. Mehr verdienen würde er dennoch.
Andererseits möchte er ungern seine Familie verlassen, sich weiter in seiner Stadt engagieren. "Meine Kinder haben eine Zukunft in der Ukraine, aber ich weiß, es wird sehr schwierig", sagt Ilja. Er hat inzwischen eine Anfrage aus Odessa erhalten - ein Job im Verkauf. Genaueres will er nicht sagen.

Ilja erklärt SPIEGEL-ONLINE-Korrespondentin Christina Hebel die Arbeit im Hafenwerk
Foto: Maxim Sergienko/ SPIEGEL ONLINENatürlich gehe er wählen, sagt er später bei einem Gespräch am Telefon. "Im ersten Wahlgang." Ilja lacht, im Hintergrund ruft sein Sohn etwas. Und im zweiten? Das wisse er noch nicht, sagt er nach einer Pause.
Sollten Selensky und Poroschenko in die Stichwahl einziehen, wird es für Ilja schwer. Selensky sei zwar ein neues Gesicht, "er hat aber keinerlei politische Erfahrung, das ist sehr schlecht".
Aber erst einmal müsse er ja am Sonntag abstimmen, sagt Ilja - und vor allem über das Angebot aus Odessa nachdenken.