Benjamin Bidder

Ukraine Wandel durch Anstrengung

Leider geht der Aufbau einer demokratischen Ordnung in der Ukraine nur schleppend voran. Der Westen sollte dennoch dringend deren Präsidenten Petro Poroschenko stärken - ihm aber auch gelegentlich auf die Finger hauen.
Gewalttätiger Protest vor dem Parlament in Kiew (August 2015)

Gewalttätiger Protest vor dem Parlament in Kiew (August 2015)

Foto: Sergey Dolzhenko/ dpa

Sieht doch gerade schwer danach aus, als würden die bösen Jungs gewinnen, oder? Wladimir Putin (war der nicht isoliert?) lässt Bomber ausschwärmen, Baschar al-Assad hat plötzlich wieder Aussichten, sich an der Macht halten zu können.

Wenn Studenten twitternd und Fahne schwenkend gegen Despoten auf die Straße gehen, ist ihnen die Sympathie von Politik und Medien im Westen zu Recht sicher. Wer wäre nicht für Freiheit und Demokratie? Nützlich wären aber auch mehr Sachlichkeit und Ausdauer.

Der nüchterne Blick erkennt, welche Chancen real sind und welche Risiken drohen. Ausdauer hilft, das Mögliche zu verwirklichen und Gefahren rechtzeitig abzuwehren. Bislang war es so: Das Interesse der Öffentlichkeit lässt nach Revolutionen deutlich nach, wenn sich abzeichnet, dass der Aufbau eines demokratischen Gemeinwesens doch komplizierter sein könnte als gedacht.

Was macht noch gleich die Ukraine?

Auf die Ermüdung folgt die Zermürbung. Natürlich sollte man nicht mit dem Fassbomben werfenden Diktator Assad reden. Viele sind jetzt aber dennoch für Gespräche. Nicht etwa, weil sie plötzlich erkannt hätten, dass Syriens Machthaber doch kein Teil des Problems, sondern dessen Lösung sein könnte. Der zynische Grund dieses Sinneswandels ist vielmehr die selbstsüchtige Hoffnung, Assads Rehabilitierung könnte das beängstigende Desaster in seinem Land begrenzen, damit Syrien uns nicht mehr Sorgen bereiten muss - um nicht zu sagen: Albträume.

Apropos Sorgen: Was macht noch gleich die Ukraine? Am Freitag berät Angela Merkel mit den Präsidenten von Frankreich, Russland und der Ukraine. Was Kiew betrifft, so ist die Öffentlichkeit im Moment noch in Phase zwei des Krisenmodus: Pikiert wegschauen, weil sich herausstellt, dass die Fahnen schwenkenden Massen vom Maidan es - Überraschung! - immer noch nicht geschafft haben, aus der kleptokratischen Ukraine einen demokratischen Vorbildstaat zu formen.

Tatsächlich fällt die neue proeuropäische Führung zurück in alte Verhaltensmuster. Fast keine Woche vergeht, in der nicht Korruptionsvorwürfe gegen die neue Führung laut würden.

Das sticht ins Auge: Die wichtigsten Posten in der Ukraine hat die alte Elite besetzt, aus Mangel an Alternativen. Daneben geht aber völlig unter, dass eine junge Generation von jungen Aktivisten, Politikern und Geschäftsleuten gerade den Marsch durch die Institutionen probt. Sie wollen den Wandel von unten. Es gibt Hunderte von ihnen, in der Verwaltung, der Justiz, in Ministerien.

Der Westen zielt falsch

Der Westen könnte die Reformer jetzt stärken, indem er den alten Eliten auf die Finger haut, wenn die sich wieder am Staatswesen vergreifen. Bedauerlicherweise ist der Westen aber gerade zu sehr damit beschäftigt, fassungslos auf Putin und den "Islamischen Staat" zu starren. Und wenn EU und USA dann doch einmal ausholen, zielen sie auf die falsche Stelle.

Das beste Beispiel ist die Umsetzung der sogenannten Minsker Übereinkünfte zum Kriegsgebiet im Donbass. Merkel und Frankreichs Hollande haben sie dem ukrainischen Staatschef Petro Poroschenko und Putin in einer Februarnacht abgerungen. Das Papier ist schwammig, voller Widersprüche, eigentlich nicht mehr als eine Absichtserklärung. Kiew verlangt es eine weitgehende Autonomie des Donbass ab, Straffreiheit für die prorussischen Kämpfer und den Umbau des ganzen Landes in eine dezentralisierte Föderation. Viele Ukrainer empfinden das zu Recht als unannehmbar.

Eine Föderation würde Moskaus Einfluss zementieren. Pro forma bliebe der Donbass ukrainisch, faktisch stünde er unter russischem Einfluss. Kiew müsste seinen Wiederaufbau finanzieren, den angestrebten Beitritt des Landes zu EU oder Nato aber aufgeben.

Im Dezember steht die entscheidende Abstimmung über die geplante Dezentralisierung an. Es steht in den Sternen, ob Poroschenko auch nur in die Nähe der notwendigen 300-Stimmen-Mehrheit kommen kann.

Bei der ersten Lesung im Sommer ging ihm bereits ein Koalitionspartner abhanden. Auch die "Volksfront" beklagte den "wahnwitzigen Druck" des Auslands, es wolle den Ukrainern seinen Willen aufzwängen. So entstehen gefährliche Dolchstoßlegenden. Vor dem Parlament gab es blutige Ausschreitungen radikaler Nationalisten. Sie warfen Poroschenko Landesverrat vor und schleuderten Granaten. Drei Soldaten wurden getötet, mehr als hundert verletzt.

Poroschenkos Bilanz ist schlecht - aber relativ gut

Kiew hat dabei versagt, das Gewaltmonopol des Staates wieder herzustellen. Noch immer ziehen schwer bewaffnete Freikorps durch die Lande. Manche stehen politischen Parteien nahe, manche Oligarchen, manche Kriminellen.

Poroschenkos Reformbilanz ist schwach, aber sie ist noch immer besser als die von jedem früheren Staatschef. Wenn das Ziel des Westens aber dauerhafte Stabilität und Entwicklung in der Ukraine ist, muss er abwägen, welche Reformen er Kiew abverlangt. Die Dezentralisierung könnte Poroschenko politisch den Kopf kosten - und die Ukraine zurück ins Chaos stürzen.

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