
Ukraine-Debatte Ein Appell für mehr Sachlichkeit


Russen und Ukrainer demonstrieren in Hannover für ein Ende des Konflikts
Foto: Friso Gentsch/ dpaChristian Neef, 62, schreibt seit 23 Jahren beim SPIEGEL über die Entwicklungen in Russland, der Ukraine und den anderen Republiken der ehemaligen Sowjetunion. Er war 13 Jahre lang Korrespondent in Moskau, wo er auch jetzt wieder lebt.
SPIEGEL ONLINE hat vergangenen Montag einen Text von mir veröffentlicht. "Putins Paralleluniversum", stand darüber. Es ging um die Wirklichkeitsverweigerung in Russland und Moskaus Fernsehpropaganda, die einen nie gekannten Tiefpunkt erreicht hat.
Ich weiß, wie empfindlich viele deutsche Leser inzwischen auf russlandkritische Texte reagieren, das ist ihr gutes Recht. Um diesem Gefühl nicht weiter Nahrung zu geben, hatte ich in dem Stück ausschließlich russische Stimmen zitiert - nicht etwa einschlägige Oppositionspolitiker oder langjährige Putin-Feinde, sondern Politologen und Medienwissenschaftler. Leute mit kühlem Verstand, die der Meinung sind, dass ihre Regierung die Vorgänge in der Ukraine absichtlich einseitig kommentiert. Sie haben das nicht auf amerikanischen oder westeuropäischen Druck hin geschrieben.
Es hat nichts geholfen.
50 Minuten nachdem der Text online war, bekam ich den ersten bösen Leserbrief. Seither beschäftigt mich die Frage, warum sich gerade in Deutschland so viel Hass in der Ukraine-Debatte zeigt.
Ein Leser schrieb mir: "Die Ukraine war schon lange eklig: ich erinnere mich noch, wie die jetzt so gepriesenen Leute dort in einer Schlucht in Kiew, wo mit die schlimmsten Juden-Massaker stattfanden, ihre Hunde 'Gassi' führten. Mit 'ein widerliches Land' ist die Ukraine sicher noch gut bedient."
Kann man ein Land mit den Worten "eklig" und "widerlich" beschreiben?
Herr Rosenthal spielt auf das Massaker von Babi Jar an, wo im September 1941 Einsatztruppen der SS binnen zwei Tagen mehr als 33.000 ukrainische Juden erschossen. Auch ukrainische Hilfspolizisten waren dabei.
Aber was sagt uns das mit Blick auf den August 2014?
Der SPIEGEL pflegt keinen Hass auf die Russen
Dass damals nicht die Deutschen die Schlimmsten waren, sondern die Ukrainer, weil sie dabei halfen, ihre eigenen Landsleute in die Schlucht von Babi Jar zu treiben? Dass das ein noch viel größeres Verbrechen war? Und die Ukraine ein Land ist, dem man deswegen nicht trauen darf?
Der Hinweis auf diese erschütternde Geschichte hilft nicht. Sie hat mit der heutigen Ukraine so gut wie nichts zu tun. Warum erinnert dieser Leser jetzt an Babi Jar? Wohl weil er der Meinung ist, dass die Ukraine einen falschen Kurs gegenüber Russland fährt, und er zur Bekräftigung seiner Ansicht noch ein Argument benötigt, das jeden Zweifel daran beseitigt, dass die Ukrainer die Bösen sind. Er unterstellt gleich mit, auch der SPIEGEL pflege einen "Hass auf die Russen" und gehe deswegen mit der Ukraine nicht kritisch um. Dieser Hass auf die Russen, schreibt er, sorge beim SPIEGEL für "klammheimliche Freude".
Der böse Ton in der Debatte ist nicht gerechtfertigt
Der SPIEGEL pflegt keinen Hass auf die Russen, er hat in den 67 Jahren seines Bestehens Russland zu einem seiner ganz großen Themen gemacht.
In der Psychologie ist Hass eine starke Form von Verachtung und Abneigung. Ein Gefühl des Ausgeliefertseins, der Gefangenschaft und Wehrlosigkeit. Es entsteht nicht nur als Folge eines Angriffs auf die eigene Person, sondern auch als Folge eines Angriffs auf die eigenen Ideale.
Sind es die Ideale - ihre Ideale -, die viele in dieser komplizierten Weltlage gefährdet sehen? Geht es ihnen im Grunde gar nicht um die Ukraine, sondern um ihr eigenes Weltbild? Es gibt jetzt offenbar nur noch Schubfächer für vermeintlich Gute oder vermeintlich Böse, hie Russland und da Amerika - und dazwischen noch ein bisschen Angela Merkel.
Aber das rechtfertigt nicht den zunehmend bösen Ton in der Debatte.
Ich habe vor Kurzem auch ein Interview (hier im digitalen SPIEGEL lesen) mit einem bekannten russischen Ideologen geführt. Er steht an der Spitze einer Bewegung, die Putin zur radikalen Abkehr von Europa drängen will. Der SPIEGEL hat es auf fünf Seiten gedruckt, in einer ungewöhnlichen Länge. Weil er der Meinung war, auch solchen Leuten Platz für die Darlegung ihrer Gedanken einzuräumen - um sie und damit Russlands Patrioten besser verstehen zu können.
Wir sollten uns bemühen, nüchtern zu bleiben
Es kamen viele Leserbriefe dazu. Die einen begrüßten den Abdruck, andere verurteilten ihn. Das war nicht überraschend. Verstörend war, welchen Ton auch hier manche anschlugen. Die einen bezeichneten den Interviewpartner als "offensichtlich geistesgestörten Verbrecher", jetzt könne "jeder nachlesen, was uns blüht, wenn diese asiatischen Steppenhorden unter der Führung des Gewaltverbrechers Putin in Europa Einfluss gewännen".
Andere argumentierten genau andersherum. Sie sprachen von einer "Atomkriegs-Motivierung für SPIEGEL-Leser". Wir hätten dieses ausführliche Gespräch nur deswegen geführt, um Russland weiter zu diskreditieren: "Sie betreiben die Kriegsvorbereitung gewisser Ostküsten-Kreise, die bei uns eine starke Lobby haben, und am liebsten atomare Mittelstreckenraketen in der Ostukraine stationieren würden", schrieb einer.
Wie gesagt: Jeder soll seine eigene Meinung haben und sie auch vertreten. Aber wir sollten uns bemühen, selbst in angespannten weltpolitischen Situationen wie der jetzigen nüchtern zu bleiben. Und vor allem sachlich. Sonst wird es wirklich kreuzgefährlich für uns alle.