Ultimatum in der Ukraine "Die Lage ist im Moment hochexplosiv"
Kiew - Der heißeste Punkt im kalten Kiew ist um Mitternacht ein etwa zehn Meter breiter Korridor vor der mächtigen Säulenfassade des Präsidentenpalasts. Hier stehen Spezialeinheiten der Regierung von Wiktor Janukowitsch Anhängern von Oppositionsführer Wiktor Juschtschenko unnachgiebig gegenüber.
Die aus dem Osten der Ukraine in heruntergekommenen Bussen eingefahrene Spezialtruppe von Präsident Leonid Kutschma steht wie eine dunkle Mauer vor dem weißen Gebäude mitten in der Stadt. Die Visiere ihrer schwarzen Helme sind heruntergeklappt, die Hände umfassen die Waffen. Vor den Vollstreckern der geballten Staatsmacht stehen Betonbarrikaden, die von den Demonstranten mit mannshohen Trauben orangefarbener Luftballons dekoriert wurden.
Auf der anderen Seite des nasskalten Korridors ein ganz anderes Bild. Dort stehen orange gekleidete Menschen ohne Waffen - doch ebenso entschlossen, nicht zu weichen und weiterhin dafür zu sorgen, dass der Präsident oder ein Mitglied der Regierung nicht in den Palast kommt. Eingehakt stehen auch sie in dicht geschlossenen Reihen. Die vorderste Blockadereihe ist dem Palast und den "schwarzen Sheriffs" zugewandt.
Drei weitere undurchdringliche Menschenketten aber richten sich in der engen Straße in die andere Richtung. Sie sollen verhindern, dass das Heer der Demonstranten dem Palast und den knüppelbereiten Soldaten zu nahe kommt. Stunde um Stunde stehen sie so die ganze Nacht hindurch. Damit sie bei den Minusgraden keine kalten Füße bekommen, stehen die Blockierer auf Paletten oder dicken Styroporplatten.
Zehntausende im Anmarsch
"Die Situation ist im Moment hochexplosiv", sagt Sergej Alyuschin, im normalen Leben Verleger, jetzt aber einer der Organisatoren der Blockade. In einer Stunde, gegen Mitternacht, sagt er, könne es zur Gewalt kommen. Denn Zehntausende sind im Anmarsch. Sie waren wie die vergangenen sechs Tage auf der Massenkundgebung auf dem Maidan, dem Platz der Unabhängigkeit.
Am späten Abend trat dort Julia Timoschenko ans Mikrofon. Sie ist neben Präsidentschaftskandidat Juschtschenko die treibende Kraft des Widerstands.
Timoschenko trug ihr strahlend blondes Haar nicht wie üblich als einen auf dem Haupt gekränzten Zopf, sondern offen. So sah sie nicht wie sonst altukrainisch-folkloristisch aus, sondern etwas wilder, entschlossener - ihrer Botschaft entsprechend. Sie stellte der Regierung im Namen des Komitees zur nationalen Rettung ein Ultimatum von 24 Stunden.
Die Forderungen: Rücktritt der Regierung, Rücktritt des Generalstaatsanwalts Andrej Wassilijew, Rücktritt und Anklage der Gouverneure von Harkow, Donezk und Lugansk, die eine Separation von der Ukraine betrieben hatten. Sollte den Forderungen nicht nachgekommen werden, so Timoschenko vor den Demonstranten, werde Kutschmas Bewegungsfreiheit innerhalb der Ukraine eingeschränkt werden. Vom morgigen Dienstag an würden zudem Eisenbahnstrecken, Autobahnen und Flughäfen blockiert. Timoschenko sagte: "Sollte das Ultimatum verstreichen, betrachten wir das als ein Verbrechen Kutschmas am ukrainischen Volk."
Regierungschef Janukowitsch reagierte umgehend auf die Rede Timoschenkos. Noch in der Nacht teilte er mit, er werde die Verhandlungen mit der Opposition unterbrechen. Während des Tages war er im ostukrainischen Severodonesk aufgetreten, wo eine Resolution verabschiedet wurde, der zufolge Regionen im Osten die Autonomie ausrufen wollten, sollte ein nicht legitimierter Präsident - Juschtschenko - die Ukraine regieren.
"Um Gottes willen keine Gewalt"
Ebenfalls am Nachmittag hatte Juschtschenko auf dem Unabhängigkeitsplatz die Demonstranten aufgerufen, die Proteste auch nach dem Wochenende fortzusetzen. "Bleibt hier, ich brauche Euch", rief er ihnen zu, "wir haben noch nicht gewonnen." Pathetisch bat er sie: "Gebraucht keine Gewalt, um Gottes willen, keine Gewalt."
Die dramatische Zuspitzung der Lage ist nach Angaben aus dem Juschtschenko-Lager darauf zurückzuführen, dass der eigentliche Sieger der Wahlen vom 21. November am Nachmittag Informationen aus dem Innenministerium erhalten hatte, die Regierung sei bereit, Gewalt anzuwenden, sollten ihre Gebäude nicht zugänglich gemacht werden. Timoschenko teilte mit, die Regierung plane auch, das Zeltlager der Demonstranten auf der Prachtmeile Chreschatik zu räumen.
Noch kam es nicht zu gewaltsamen Auseinandersetzungen. Davon künden auch die Trommeln, die die ganze Nacht über geschlagen wurden, und die auch am Morgen unaufhörlich durch Kiew dröhnen. Die aus leeren Fässern gemachten Instrumente werden von jungen Leuten geschlagen, die sich in einer langen Reihe auf einer Böschung gegenüber dem ebenfalls blockierten Regierungspalast postiert haben. Der Lärm der Trommeln bricht sich vielfältig an der konkaven Fassade des hohen Gebäudes und hallt wieder. Selbst wenn Regierungsbeamte ihre Schreibtische erreichten, wären sie ob der Lautstärke der Trommeln kaum in der Lage zu arbeiten.
Heute Morgen versammelten sich abermals Tausende Oppositionsanhänger in Kiew, um ihren Protest gegen das Ergebnis der Präsidentenwahl vor das Oberste Gericht zu tragen. Die mit orangefarbenen Tüchern, Plakaten und Fahnen ausgestattete Menge plante einen Marsch vor das Gerichtsgebäude, in dem die oberste juristische Instanz des Landes im Verlauf des Tages mit seiner Verhandlung der Beschwerden wegen Wahlbetrugs beginnt. Bis zu einer Beschlussfassung des Gerichts könne es allerdings mehrere Tage dauern, sagte eine Sprecherin des Gerichts vor Beginn der Sitzung. Bis zu 40 Richter sind an dem Verfahren beteiligt, von dem sich Regierungslager wie Opposition eine Lösung der Krise erhoffen.
Mit der jüngsten Entwicklung sind die mühsam auf Vermittlung von EU-Chefdiplomat Javier Solana und dem polnischen Präsidenten Aleksandr Kwasniewski ausgehandelten Vereinbarungen zwischen Regierung und Opposition obsolet. Zwar hält bis zur Stunde die Absprache, keine physische Gewalt anzuwenden, doch die Opposition widersetzt sich, die Regierungsgebäude zugänglich zu machen, und die Regierung boykottiert nun die vereinbarten Arbeitsgruppen, die zu einer Lösung der Krise führen sollten.