Umgang mit Kindern an US-Grenze "Als Amerikaner schäme ich mich zutiefst"

Flüchtlinge in einem US-Lager in McAllen (Texas)
Foto: AP/U.S. Customs and Border Protections Rio Grande Valley SectorSPIEGEL ONLINE: Herr Bochenek, Sie waren gerade in zwei texanischen Internierungslagern für illegale Einwanderer und ihre Kinder. Was haben Sie dort gesehen?
Bochenek: Das eine Lager besteht aus Zellen für alle Immigranten, die vor Kurzem an der Grenze festgesetzt wurden. Die Zellen sind sehr kalt, die Temperatur beträgt vielleicht 13 Grad. Die Insassen nennen sie "hieleras" ("Eisschränke").
SPIEGEL ONLINE: Warum so kalt?

Michael Garcia Bochenek ist Chefjurist der US-Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch (HRW) mit Schwerpunkt Kinderrechte. Er kümmert sich um inhaftierte Jugendliche, Kindersoldaten sowie Flüchtlings- und Migrantenkinder. Zuvor war er Anwalt beim Londonder Sekretariat von Amnesty International.
Bochenek: Das konnte mir keiner erklären. Die Grenzpolizei sagt, sie achte auf "angenehme" Temperaturen. Doch die Böden, Wände und Bänke sind aus Beton, Sie können sich vorstellen, wie das ist bei 13 Grad, mit feuchten Kleidern. Die Zellen sind sehr, sehr klein, aber trotzdem sind bis zu 30 Menschen darin untergebracht.
SPIEGEL ONLINE: Das sind Erwachsene und Kinder?
Bochenek: Ja, aber sie sind nach Alter und Geschlecht getrennt. Diese Einrichtung ist nur für kurzfristige Verwahrung, die meisten Menschen bleiben höchstens 24 Stunden. Erst danach kommt der Punkt, wo die Kinder ihren Eltern abgenommen werden.
SPIEGEL ONLINE: Wie geht das?
Bochenek: Die Erwachsenen werden vor ein Gericht gestellt und dort des illegalen Gesetzübertritts angeklagt. Auf dem Weg dahin erklärt die Einwanderungsbehörde die Kinder der Angeklagten kurzum zu "unbegleiteten Kindern" und schickt sie automatisch in eine andere Richtung. Sie werden dann behandelt, als seien sie nie mit ihren Eltern über die Grenze gekommen, sondern allein.
SPIEGEL ONLINE: Wohin kommen die Kinder dann?
Bochenek: Die Kinder werden sofort in eine größere Einrichtung gebracht, ein "Bearbeitungszentrum". Das ist diese Lagerhalle in McAllen in Texas, die man neulich auch im Fernsehen sehen konnte. Sie besteht aus lauter Maschendrahtabteilen, die wie Käfige aussehen. Die Kinder nennen sie "Zwinger", weil sie wie Tiere gehalten werden.
SPIEGEL ONLINE: Wie werden die Kinder dort versorgt?
Bochenek: Die Kinder bekommen zu essen und haben ein Dach über dem Kopf, aber sie erhalten keinesfalls die Betreuung, die man für Minderjährige erwartet. Ich traf einen fünf Jahre alten Jungen, der allein auf einer grünen Matte hockte und in eine Notdecke aus Alufolie gewickelt war. Er sah entsetzlich verloren aus. Keiner hatte ihm gesagt, was los war. Er hatte seine Eltern seit mehr als einem Tag nicht mehr gesehen.
Im Video: Einblick in die Auffanglager für Kinder
SPIEGEL ONLINE: Wie verkraften die Kinder das?
Bochenek: Die Kinder sind völlig traumatisiert. Sie haben keine Ahnung, was als nächstes passiert. Nirgendwo sind Betreuungskräfte, nur Wachbeamte in Uniformen, die Namenslisten abhaken. Auch ist das Licht rund um die Uhr an.
SPIEGEL ONLINE: Das ist ja fast wie Folter.
Bochenek: Aus Sicherheitsgründen, sagte man mir. Jedenfalls widerspricht das allen nationalen wie internationalen Normen.
SPIEGEL ONLINE: Solche Erlebnisse sind schon für Erwachsene hart. Wie können Kinder in der prägenden Lebensphase das verarbeiten?
Bochenek: Den Kindern drohen sehr, sehr dauerhafte Traumaschäden. Studien haben immer wieder nachgewiesen, dass Arrest traumatisierend ist und dass die Trennung von der Familie ebenfalls traumatisierend ist. Das geht nie weg, selbst wenn es lange vorbei ist.
SPIEGEL ONLINE: Was passiert mit kranken Kindern, die Medikamente brauchen?
Bochenek: Jeder Besitz wird ihnen abgenommen und irgendwo gelagert, auch alle Arzneien, die sie dabeihaben. Jedes Kind bekommt eine Quittung aus Papier, aber natürlich gibt es immer Probleme, die Sachen wiederzubekommen. Ein Elternpaar erzählte mir, dass ihr Kind Asthma habe, doch dass sie ihnen die nötige Medizin an der Grenze abgenommen hätten, mit allen anderen Habseligkeiten.
SPIEGEL ONLINE: Gibt es eine ärztliche Versorgung in dem Lager?
Bochenek: Nur die nötigsten, rudimentären Tests. Es scheint keine Möglichkeit zu geben, medizinische Bedürfnisse zu erfüllen.

USA: So sieht es in Trumps Kinderlagern aus
SPIEGEL ONLINE: Woher stammen die Kinder?
Bochenek: Die meisten kommen aus Guatemala, El Salvador oder Honduras. Viele erzählen, dass sie mit ihren Familien vor Morddrohungen geflohen seien, vor Gewalt, vor Vergewaltigung von Frauen und Mädchen, vor Erpressung und anderen Bedrohungen durch Gangs.
SPIEGEL ONLINE: Dass Menschen versuchen, illegal über die Grenze in die USA zu kommen, ist ja kein neues Phänomen. Wieso werden die Familien auf einmal getrennt?
Bochenek: Nichts hat sich gesetzlich geändert, als dass es auf einmal notwendig wäre, Familien auseinanderzureißen. Das ist eine reine Entscheidung der Trump-Regierung. Dieselbe Regierung, die das vor zwei Monaten noch nicht für nötig hielt. Die klagen die Einwanderer neuerdings strafrechtlich an. Bisher war illegaler Grenzübertritt meist nur ein Vergehen, aber kein Verbrechen. Die Immigrationsrichter verurteilen die Einwanderer dann nur zur bereits abgesessenen Zeit und lassen sie sofort frei, das ganze Verfahren ist oft nur eine Sache von Stunden. Die Trump-Regierung tut jetzt aber so, als drohe den Immigranten ein längerer Gefängnisaufenthalt, was Unsinn ist. Und mit der Ausrede nehmen sie ihnen die Kinder ab.
SPIEGEL ONLINE: Was bezweckt die Regierung damit?
Bochenek: Das soll wohl zum Teil Abschreckung sein und zum Teil Strafe. Was das alles noch abscheulicher macht - die Menschen fliehen doch vor dem Tod.
SPIEGEL ONLINE: Sie haben weltweite Erfahrung mit misshandelten Kindern. Haben Sie so etwas schon mal anderswo erlebt?
Bochenek: Nein. Ich kenne kein anderes Land, das Familien in diesem Ausmaß trennt. Alle Aspekte daran sind hier ohnegleichen.
SPIEGEL ONLINE: Wie finden Sie das als Amerikaner?
Bochenek: Es ist moralisch verwerflich. Ich schäme mich zutiefst. Unser Land versteht sich als Demokratie, deren Macht beim Volk liegt. Ich hoffe, dass die Öffentlichkeit so klar darüber urteilt, dass diese Politik unhaltbar wird.