

Jimmy Watson hat alles versucht: Er hat Straßen blockiert. Er ist auf Lastwagen mit Raketen geklettert. Er hat Stacheldrahtzäune überwunden und sich an Deck eines Atom-U-Boots geschlichen. Es hat alles nichts gebracht: Der Betrieb auf der Faslane Navy Base, dem Heimathafen der britischen Atom-U-Boote, lief einfach weiter.
Nun wittert der 32-jährige Friedensaktivist eine einmalige Gelegenheit: Wenn die Schotten bei ihrem Referendum am 18. September für die Unabhängigkeit stimmen, wäre Schottland binnen fünf Jahren atomwaffenfrei. Das zumindest verspricht die schottische Regierung. Großbritannien müsste für seine Nuklearflotte einen alternativen Standort in England finden - oder die Massenvernichtungswaffen ganz abschaffen.
Ein Ja zur Unabhängigkeit, sagt Jimmy zufrieden, wäre "eine Chance für echte Veränderung". Und derzeit holen die Befürworter einer Abspaltung rasant auf - es sieht nach einem extrem knappen Ergebnis aus.
Jimmy wohnt im Faslane Peace Camp, einem Platz mit rund einem Dutzend Wohnwagen an der Zufahrtstraße zu dem U-Boot-Hafen. In den Bäumen hängen Transparente ("Befreit Schottland von Atomwaffen"), die rostenden Anhänger sind mit Peace-Zeichen in grellen Farben bemalt. Das Protestlager besteht seit über 30 Jahren, doch in greifbare Nähe ist das große Ziel erst jetzt dank der schottischen Nationalisten gerückt.
Aus 160 "Trident"-Raketen mit Nuklearsprengköpfen besteht das britische Atomwaffenarsenal, das Land setzt ausschließlich auf seegestützte Systeme. Sie können von vier atomgetriebenen U-Booten abgefeuert werden. Mindestens ein einsatzbereites U-Boot ist ständig auf See, der Rest liegt im Loch Gare, eine Stunde nördlich von Glasgow. Die Raketen und die Nuklearsprengköpfe sind separat im einige Kilometer entfernten Coulport deponiert.
Umzug nach England würde Milliarden kosten
Für die Regierung in London wäre die Verbannung ihrer U-Boote aus Schottland ein Albtraum, denn sie hat keinen alternativen Standort. Bei der ursprünglichen Suche in den Sechzigerjahren hatte man mehrere Häfen in England und Wales verworfen, weil sie nicht tief genug waren oder in dicht besiedeltem Gebiet lagen. Heute wäre die Lage noch schwieriger.
Laut einer Studie der Militär-Denkfabrik Rusi böte sich am ehesten der südenglische Hafen Plymouth als neue Heimat für die Atom-U-Boote an. Hier liegt bereits die herkömmliche U-Boot-Flotte der Royal Navy, Anleger und Docks wären also vorhanden. Ein neues Lager für die Atomraketen könne in Falmouth gebaut werden, schlagen die Experten vor.
Der Umzug wäre nach Einschätzung der Autoren machbar, aber problematisch. Die Kosten würden mit 3,5 Milliarden Pfund zwar geringer ausfallen als befürchtet. Aber im Seglerparadies Falmouth sei mit erheblichem Widerstand der Bevölkerung gegen die Nuklearsprengköpfe zu rechnen.
Theoretisch könnte die britische Regierung auch einen Nutzungsvertrag mit Schottland abschließen und Faslane gegen Zahlung weiterbetreiben. Doch erstens ist zweifelhaft, ob die schottische Regierung dazu bereit wäre. Und zweitens würde Großbritannien wohl zögern, sein Atomprogramm den wechselnden Launen einer ausländischen Regierung auszusetzen.
Die Rusi-Autoren halten es daher für denkbar, dass die britische Regierung am Ende ganz auf Atomwaffen verzichten könnte. Auch der frühere Nato-Generalsekretär George Robertson, ein Schotte, hat bereits vor dem Aus der britischen Atommacht gewarnt. Die schottische Unabhängigkeit könne "umwälzende" Folgen für die Nato haben, hatte er in Washington gesagt.
Einwohner von Helensburgh fürchten um Arbeitsplätze
Im Hauptquartier der Unabhängigkeitskampagne in Helensburgh spielen solche geostrategischen Überlegungen keine Rolle. Filmemacher und Atomwaffengegner Brendan O'Hara sieht vor allem die horrenden Kosten: Hundert Milliarden Pfund soll die Erneuerung des Trident-Programms kosten, ab 2016 sollen vier neue Atom-U-Boote gebaut werden. Die Idee der atomaren Abschreckung sei überholt, sagt der 51-Jährige. Das Geld könne man besser investieren.
Kritik an Trident wollen viele seiner Mitbürger jedoch nicht hören. Die 20.000 Einwohner der Kleinstadt sind den Anblick der U-Boote auf der Clyde gewohnt. Alle paar Wochen taucht eines der Ungetüme vor ihrer Uferpromenade auf, wird von Schleppern in den Hafen bugsiert oder entschwindet gen offenes Meer. Die Aussicht, dass hier bald nur noch Segelboote kreuzen könnten, ruft bei den meisten mehr Alarm als Erleichterung hervor. Sie fürchten um Tausende Arbeitsplätze.
"Mein Schwiegersohn arbeitet auf dem Marine-Stützpunkt", sagt die Rentnerin Janet Fortune. "Er müsste umziehen, wenn Schottland unabhängig würde." Andere sorgen sich um die Immobilienpreise, wenn der größte Arbeitgeber die Gegend verlässt. Es sei sehr schwierig, die Helensburgher von der Unabhängigkeit zu überzeugen, sagt Margaret Pollock, Anführerin der lokalen "Yes"-Kampagne.
Die Aktivisten werden in den kommenden Wochen dennoch weiter ausschwärmen, mit ihren blau-weißen "Yes"-Buttons auf der Brust. Die Sorge um die Arbeitsplätze sei unbegründet, sagt O'Hara. Er verweist auf den Plan der schottischen Regierung, das Hauptquartier der schottischen Streitkräfte nach Faslane zu verlegen. Auch könne Helensburgh nach Abzug der Atomwaffen sein touristisches Potenzial ausschöpfen. "Vielleicht bekommen wir dann endlich einen Strand."
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Das britische Atom-U-Boot "HMS Vanguard" liegt in seinem Heimathafen, der Faslane-Marinebasis in Schottland. An Bord hat es 16 Atomraketen. Zusammen mit drei Schwesterschiffen bildet es den Kern der britischen Nuklearmacht.
Im Fall der schottischen Unabhängigkeit will die schottische Regierung die Atom-U-Boote von ihrem Boden verbannen. Die Marine-Basis soll Hauptquartier der konventionellen schottischen Streitkräfte werden.
Die "HMS Vigilant" in schottischen Gewässern: Der Stützpunkt in Faslane ist für die königliche Marine von besonderer Bedeutung. Von dort haben die Schiffe raschen Zugang zum offenen Meer. Einen Stützpunkt mit ähnlich günstigen Rahmenbedingungen hat das britische Verteidigungsministerium bisher kaum gefunden.
Seit über 30 Jahren protestieren Friedensaktivisten im Faslane Peace Camp gegen die Atomwaffen. Das Wohnwagenlager steht an der Zufahrtsstraße zur Marine-Basis.
Jimmy Watson wohnt seit einem Jahr in dem Peace Camp. Ein Ja zur schottischen Unabhängigkeit sei der erste Schritt zu echter Veränderung, sagt er.
Auch Heather (links) will für ein unabhängiges Schottland stimmen, obwohl sie Engländerin ist. So eine Chance komme nicht wieder, sagt sie.
In der 20.000-Einwohner-Stadt Helensburgh in der Nähe gehen die Meinungen über den Marinestützpunkt auseinander. Die meisten fürchten um die Arbeitsplätze, die verloren gehen könnten.
Die "Yes"-Kampagne, die für die Unabhängigkeit kämpft, hat ein prominentes Haus auf dem zentralen Platz der Kleinstadt bezogen. Von hier wird der Endspurt im Wahlkampf organisiert.
Im Hauptquartier hängt ein Terminplan für die Tage bis zum Referendum am 18. September. Die Unabhängigkeitsbefürworter liegen in den Umfragen hinten, doch sie sind optimistisch: Am 19. werde es Grund zum Feiern geben.
Margaret Pollock (rechts), eine pensionierte Zahnchirurgin, ist die Organisatorin der "Yes"-Kampagne in Helensburgh. Hier versucht sie, einen unentschlossenen Wähler zu überzeugen. Alle Ausländer, die seit mindestens zwei Jahren in Schottland wohnen, dürfen mit abstimmen.
Vor der Uferpromenade von Helensburgh pflügt alle paar Wochen ein Atom-U-Boot durchs Wasser. Wenn sie einmal nicht mehr da sind, hoffen einige Bewohner, könnte man Helensburgh in einen Badeort verwandeln.
Hinter verschlossenen Türen arbeiten die Briten an einem Szenario für die Zeit nach einem positiven Votum. Ein wichtiger Faktor sind dabei die enormen Kosten, die eine Schließung des Stützpunkts (hier ein Bild von 2009) mit sich bringen würde. Das Ministerium geht von einem Milliardenaufwand für Dekommission und den Neuaufbau einer Basis auf britischem Boden aus.
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