Unabhängigkeits-Bewegungen Kosovo - Ansporn für Europas Minderheiten?

Aufregung um das Kosovo: Während heute in der serbischen Hauptstadt Belgrad Massenproteste erwartet werden, ist man sich auch in der EU alles andere als einig - sechs EU-Staaten wollen die Unabhängigkeit nicht anerkennen, weil sie selbst Probleme mit Minderheiten befürchten.
Von Stephan Orth, Nadine Michel und Maike Jansen

Für Hashim Thaci, den Regierungschef des Kosovo, war es der wohl wichtigste Tag seiner Amtszeit: Nach der Unabhängigkeitserklärung am Sonntag verkündete er in Pristina, dass sein Land jetzt offiziell Teil der "europäischen Familie" sei - und dachte im Überschwang des historischen Moments wohl nicht daran, dass es sich dabei um eine zuweilen recht launische und zerstrittene Familie handelt. Denn schon wenige Stunden später zeigte die Uneinigkeit um die Anerkennung des Kosovo, was für ein heterogenes Gebilde Europa immer noch ist. Gleichzeitig wirft sie die Frage auf, ob ein derart gespaltenes Europa je in der Lage sein wird, eine effektive gemeinsame Außenpolitik zu betreiben. Aus Deutschland und Österreich zog Serbien heute seine Botschafter ab, nachdem Berlin und Wien das Kosovo als unabhängigen Staat anerkannt hatten. Auch Dänemark, Österreich, Frankreich und Großbritannien vertreten eine ähnliche Position zur Unabhängigkeit - doch gerade die EU-Länder, die selbst mit Minderheitenkonflikten zu tun haben, lehnen die Lossagung des Kosovo von Serbien ab. Sie befürchten, dass Separatistengruppen im eigenen Land sich ein Beispiel an der Entwicklung im Balkan nehmen könnten.

Doch was sind diese Konflikte, warum ist ihre Lösung so schwierig? SPIEGEL ONLINE stellt sechs Länder vor, die aus der EU-Linie ausscheren.

Spanien: Basken und Katalanen

Die spanische Zentralregierung in Madrid befürchtet, dass baskische Separatisten die Unabhängigkeitserklärung des Kosovo als Präzedenzfall und neue Ermunterung ansehen könnten. So war Spanien eines der ersten EU-Länder, die verkündeten, die Unabhängigkeit der ehemaligen serbischen Provinz nicht anzuerkennen.

Schon Anfang 2008 hatte die Terrororganisation ETA angekündigt, ihr weiteres Vorgehen auch von der Situation des Kosovo abhängig zu machen. Die ETA hat das Ziel, das Baskenland von der spanischen "Besatzungsmacht" zu befreien und einen sozialistischen unabhängigen Baskenstaat zu gründen. 1959 wurde sie zum militanten Widerstand gegen den spanischen Diktator Franco gegründet. Dieser hatte unter anderem den Gebrauch der baskischen Sprache verboten und wollte die baskische Minderheit mit allen Mitteln unterdrücken. Insgesamt gibt es drei Millionen Basken, 2,5 Millionen davon leben in der nordspanischen Region, der kleinere Teil im Südzipfel Frankreichs. Der Konflikt allerdings hat sich bisher hauptsächlich auf spanischem Boden zugetragen.

Nach dem Ende der Franco-Diktatur wurde den Basken 1979 eine weitgehende Autonomie eingeräumt. Doch das reichte ihnen nicht. Mit Sprengstoffanschlägen und Einschüchterungskampagnen kämpft die ETA weiter für eine reine Unabhängigkeit. Ihr Kampf hat bisher mehr als 800 Todesopfer gefordert.

Auch eine weitere Minderheitengruppe, die Katalanen, strebt in Spanien mehr als den ihr 1978 zugesprochenen Autonomiestatus an. In der nordöstlichen Region Spaniens, der wirtschaftlich stärksten des Landes, leben etwa 7,2 Millionen Einwohner. Bereits bis ins 18. Jahrhundert besaß Katalonien Autonomiestatus. Es ist noch nicht lange her, da forderte Josep-Lluís Carod-Rovira, Chef der "Republikanischen Linken" und Stellvertreter von Regionalpräsident Jose Montilla, ein Unabhängigkeitsreferendum bis zum Jahr 2014.

Dass jedoch sowohl das Baskenland als auch Katalonien trotz ihrer weiteren Unabhängigkeitsbestrebungen schon jetzt weitgehende Autonomierechte besitzen, macht eben auch den Unterschied gegenüber dem Fall Kosovo aus.

In Madrid könnten die innenpolitischen Aspekte bei der Entscheidung über die Nicht-Anerkennung des Kosovo sogar eine doppelt bedeutsame Rolle gespielt haben - dort finden am 9. März Kongresswahlen statt.

Zypern: Die türkischen Zyprer

Während das Kosovo am Sonntag die Unabhängigkeit feierte, brachte der gleiche Tag für Zypern neue Hoffnung auf Einigung. Im griechischen Südteil der Insel wurde Präsident Tassos Papadopoulos abgewählt, der mit seiner Isolationspolitik die Kontakte zu den Zyperntürken im Norden und zur Europäischen Union massiv verschlechtert hatte. Die Kandidaten für seine Nachfolge haben angekündigt, die Verhandlungen mit den türkischen Zyprern wieder aufnehmen zu wollen - es keimt also wieder Hoffnung, dass eine Wiedervereinigung möglich ist.

Seit 1974 sind die Volksgruppen der sonnenverwöhnten Insel getrennt. Im Jahr 1983 ernannte sich der mehrheitlich von Türken bewohnte Nordteil der Insel zum unabhängigen Staat "Türkische Republik Nordzypern", der jedoch völkerrechtlich außerhalb der Türkei nicht anerkannt ist. Der griechisch-zyprische Südteil, in dem drei Viertel der insgesamt etwa eine Million Inselbewohner leben, ist als "Republik Zypern" seit 2004 EU-Mitglied. Seitdem sind Reisen über die Grenze einfacher, doch bis heute gibt es wenig direkten Kontakt zwischen den ethnischen Gruppen, ein Stacheldrahtzaun markiert die Grenze zwischen Nord- und Südinsel. Uno-Truppen kontrollieren die Demarkationslinie.

Im Jahr 2004 scheiterte ein Versuch des damaligen Uno-Generalsekretärs Kofi Annan, den Inselstaat durch eine Volksabstimmung zur Wiedervereinigung zu bringen, an den Stimmen der Inselgriechen. Die Türkei hat ein besonderes Interesse an einem geeinten Zypern, weil das ein Meilenstein auf dem Weg zum eigenen EU-Beitritt wäre.

Am kommenden Sonntag entscheidet eine Stichwahl, wer neuer Staatschef wird: Dimitris Christofias, der 61-jährige Vorsitzende der reform-kommunistischen Akel-Partei, oder der Konservative Ioannis Kassoulidis, 59. Während Christofias als einer der wenigen griechischen Politiker auch im Norden Respekt genießt, traut man dem Europa-Abgeordneten Kassoulidis eine erhebliche Verbesserung der angeschlagenen Beziehung zur EU zu. Doch wer auch immer die Wahl gewinnt, es bleibt eine enorm schwierige Aufgabe, die Konfliktparteien wieder zusammenzubringen. Denn die türkischen Zyprer, die 2004 für eine Wiedervereinigung stimmten, sind enttäuscht, weil ihre Kompromissbereitschaft damals nicht belohnt wurde.

Aus diesem Trotz heraus könnte sich die Tendenz verstärken, sich am Kosovo ein Beispiel zu nehmen und sich für die öffentliche Anerkennung der Unabhängigkeit des Nordens einzusetzen. Um das zu verhindern, kommt der Regierungswechsel vielleicht genau zum richtigen Zeitpunkt.

Rumänien: Die Magyaren im Szeklerland

"Die Unabhängigkeit des Kosovo ist ein Präzedenzfall, dem alle EU-Staaten mit einer ethnischen Minderheit folgen sollten", sagte Béla Markó, der Vorsitzende der Union Demokratischer Ungarn am Montag in Bukarest. Damit bestätigte er Befürchtungen der rumänischen Regierung, dass die ungarische Minderheit die Entwicklung im Kosovo als Vorbild für eigene Unabhängigkeitsbemühungen ansehen könnte. Das rumänische Parlament stimmte anschließend in einer Sondersitzung mit 357 zu 27 Stimmen dafür, einem unabhängigen Kosovo die Anerkennung zu verweigern. Staatspräsident Traian Basescu erklärte die Unabhängigkeitserklärung des Kosovo für gesetzeswidrig.

In dem 22-Millionen-Einwohner-Staat Rumänien leben 1,4 Millionen Ungarn und Hunderttausende Roma. Durch ihre Zahl kommt die ungarische Minderheit bei Wahlen mit einer eigenen Vertretung regelmäßig über die Fünf-Prozent-Hürde. Bei den ersten Wahlen seit dem EU-Beitritt im Januar 2007 zog der Demokratische Verband der Ungarn aus Rumänien (UDMR) mit 6,2 Prozent ins EU-Parlament ein.

Der UDMR fordert eine Abschaffung des Begriffes "Einheitsstaat" aus der rumänischen Verfassung, verbesserte Bildungseinrichtungen für Magyaren und setzen sich dafür ein, dass ungarische Kirchenschätze, die 1918 konfisziert wurden, zurückgegeben werden.

Seit 2004 gibt es eine radikalere Abspaltung der UDMR unter dem Namen Ungarische Bürgerunion, die sich für engere Beziehungen zu Ungarn und die Autonomie des Szeklerlandes einsetzt. Dabei handelt es sich um das kulturelle Zentrum der Magyaren in Rumänien im Osten Siebenbürgens, wo knapp 700.000 Ungarn leben und in manchen Orten mehr als 70 Prozent der Einwohner ungarisch sprechen. Schon einmal, zwischen 1952 und 1968, war das Szeklerland eine autonome Region, Teile Siebenbürgens waren bis 1920 ungarisches Staatsgebiet. Doch auch wenn jetzt die ungarische Minderheit jetzt verschärft auf eine Separation pocht - wie das Abstimmungsergebnis zum Kosovo belegt, sind mehr als 90 Prozent des rumänischen Parlaments gegen ein autonomes Gebiet in Siebenbürgen.

Bulgarien: Die muslimischen Pomaken

Eins machte der bulgarische Präsident Georgi Parwanow schon im Vorfeld der Unabhängigkeitserklärung deutlich: Ohne eine einheitliche Position der Europäischen Union werde sein Land die Eigenständigkeit des Kosovo nicht anerkennen. Nur wenn sichergestellt sei, dass in dem neuen Balkanstaat die Menschenrechte gewahrt und der Ahtisaari-Plan umgesetzt würden, werde Bulgarien über eine Aufnahme von Beziehungen nachdenken.

Eine Skepsis, die wohl auch mit der Situation im eigenen Land zusammenhängt: Denn die Lossagung der Kosovo-Albaner von Serbien könnte der türkischen Minderheit im eigenen Land neuen Aufwind geben. Rund 700.000 Türken leben in Bulgarien, in vielen Städten und Regionen im Norden des Landes bilden sie die Mehrheit der Bevölkerung.

Im Süden des Landes gibt es rund 200.000 muslimische Pomaken slawischer Herkunft, die in der "Bewegung für Rechte und Freiheiten" im bulgarischen Parlament vertreten sind. Dennoch werden sie in der Verfassung nicht als ethnische Minderheit anerkannt. Durch viele Jahre der Unterdrückung und Vertreibung - zuletzt unter kommunistischer Herrschaft - wanderten viele von ihnen in die Türkei aus, die Verbliebenen leben heute meist in großer sozialer Not.

Bereits vor dem Eintritt des Landes in die EU gab es Bestrebungen, der Minderheit mehr Rechte einzuräumen: So fordert die Bürgervereinigung "Millet-Thrakien" bereits seit langem, die türkische Sprache als zweite Amtssprache einzuführen und eine türkische Staatsuniversität zu gründen.

Werden diese nun möglicherweise auch gewaltsam umgesetzt? Vor einer drohenden Wiedererstarkung separatistischer Gruppen warnte der bulgarische Außenminister Iwajlo Kalfin. Er bezog sich dabei allerdings auf den gesamten Balkan. Die Unabhängigkeit des Kosovo destabilisiere die Lage in der Region und könne zu einem Rückfall zur Gewalt führen. Was Bulgarien als direkten Nachbarn natürlich mit betreffen würde.

Die Zurückhaltung der bulgarischen Regierung könnte aber auch andere Gründe haben: Da Russland bereits im Vorfeld angekündigt hatte, die Unabhängigkeit des Kosovo nicht anzuerkennen, wolle sich der Präsident keine Ohrfeige von der "wuchtigen Hand des Kremls" einfangen, mutmaßte die bulgarische Zeitung "Dnevnik".

Griechenland: Die westthrakischen Türken

Vor einem "Präzedenzfall" für Europa warnte die griechische Außenministerin Dora Bakoyanni. Die Unabhängigkeitserklärung des Kosovo könne Signalwirkung für ethnische Minderheiten in vielen europäischen Ländern haben. Erkennt die Europäische Union die Lossagung einer Volksgruppe einmal an, muss sie es vielleicht in Zukunft immer wieder tun.

Bis zum ersten Balkankrieg gehörte die Region zum osmanischen Reich, danach stand der größte Teil unter bulgarischer Kontrolle. Nach dem zwischenzeitlichen Versuch, eine "Provisorische Regierung Westthrakiens" zu installieren, fiel die Region 1913 schließlich ganz Bulgarien zu - für kurze Zeit. Schon nach dem ersten Weltkrieg änderten sich die Machtverhältnisse erneut: Westthrakien wurde den Entente-Mächten zugesprochen, der Vertrag von Sèvres übergab die Region schließlich 1920 an Griechenland.

Was aber passierte mit den hauptsächlich türkischsprachigen Einwohnern der Region? Ihnen wurden in einem drei Jahre später in Lausanne aufgesetzten Vertrag spezielle Minderheitsrechte eingeräumt: So findet an thrakischen Schulen bis heute auch Unterricht in türkischer Sprache statt, die Bewohner stehen unter einem besonderen Schutz. Dennoch gibt es Spannungen in der Region: Vor allem bei Verhandlungen mit Istanbul sind die thrakischen Türken ein beliebter diplomatischer Spielball.

Auch wenn die Abspaltung Kosovo im eigenen Land keine Spannungen hervorrufen sollte, blicken die Griechen mit Sorge Richtung Balkan: Als direkter Nachbar könnte ein erneut aufflammender Konflikt sie ebenfalls betreffen.

Slowakei: Die ungarische Minderheit

Schon seit Jahren wettern slowakische Populisten gegen ungarischsprachige Slowaken in ihrem Land. Allen voran Ján Slota. Er ist Führer der Slowakischen Nationalpartei (SNS) und wurde mit rassistischen Äußerungen über die ungarische Minderheit zu einem der beliebtesten Politiker des Landes. "Die Ungarn sind das Krebsgeschwür im Leib der slowakischen Nation", so oder ähnlich polarisiert Slota gerne.

Die Ungarn stellen einen knapp zehnprozentigen Anteil an der slowakischen Bevölkerung und leben vorwiegend im Süden des Landes. Die ethnische slowakisch-ungarische Grenze, wie sie in etwa bis heute fortbesteht, hatte sich vor allem im 16. und 17. Jahrhundert durch die Besetzung des heutigen Ungarns durch die Türken gen Norden verschoben. Viele Ungarn waren damals in die Städte Bratislava, Trnava, Košice und Krupina gezogen.

Vertreten werden die Ungarn durch die Partei der Ungarischen Koalition (SMK). Bis zum Regierungswechsel im Jahr 2006 war sie selbst noch an der Macht vertreten, seit dem Machtverlust jedoch wachsen neue Spannungen.

Zwar läuft das Zusammenleben der Ethnien in der Bevölkerung - auch zahlreiche Roma leben in der Slowakei - insgesamt einigermaßen reibungslos ab. Streitpunkte gibt es dennoch immer wieder. Etwa wenn es um das Bildungswesen geht. Die slowakische Regierungskoalition, bestehend aus der linkspopulistischen "Smer - Sozialdemokratie", der SNS sowie der populistischen "Bewegung für eine demokratische Slowakei", stieß mit dem Plan, nur noch slowakische Ortsbezeichnungen in Schulbüchern zu veröffentlichen, auf massive Kritik bei den Magyaren.

Nun fürchtet die Slowakei ein neues Aufbegehren der ungarischen Minderheit. Das Beispiel Kosovo könnte zu verstärkten Unabhängigkeitsbestrebungen der magyarischen Bevölkerung führen - oder sie sogar darin bestärken, den Zusammenschluss mit dem südlichen Nachbarland anzustreben.

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