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Ungarn Aufstand gegen Orbáns "Sklavereigesetz"

Tausende Ungarn demonstrieren seit Tagen gegen die gesetzliche Erhöhung der Überstunden. Die Orbán-Regierung sieht hinter den Protesten "Provokateure", "ausländische Straftäter" - und den US-Börsenmilliardär Soros.

Es passiert äußerst selten, dass Ungarns Premier Viktor Orbán in die Defensive gerät. Zum letzten Mal war das im Herbst 2014 der Fall, als seine Regierung eine Internetsteuer einführen wollte. Nach mehreren Großdemonstrationen nahm Orbán das Vorhaben schließlich zurück - denn die Umfragewerte seiner Partei waren stark gesunken.

Nun erlebt Ungarn wieder eine Protestwelle - die größte seit Langem. Seit mehreren Tagen demonstrieren Tausende Menschen in der Hauptstadt Budapest, aber auch in anderen Städten des Landes. Wegen einzelner Randalierer ging die Polizei teilweise unverhältnismäßig brutal gegen die Demonstranten vor, setzte massiv Tränengas ein und verhaftete wahllos Teilnehmer der Kundgebungen wie auch Unbeteiligte - was die Proteste eher noch anheizte.

Auslöser ist das von der Opposition so genannte "Sklavereigesetz". Mit dieser Arbeitsrechtsnovelle wird die jährlich mögliche Überstundenzahl von 250 auf 400 erhöht. Zugleich können sich Arbeitgeber mit der Bezahlung der Zusatzarbeit künftig drei Jahre Zeit lassen statt wie bisher ein Jahr. Das Gesetz ist die neueste Maßnahme einer langen Liste arbeitnehmerfeindlicher Maßnahmen, die unter Orbán seit 2010 verabschiedet wurden. Gegen den massiven Protest von Gewerkschaften, Opposition und Zivilorganisationen war es am vergangenen Mittwoch beschlossen worden. Bei der Abstimmung kam es zu chaotischen Szenen im Parlament, weil die Opposition das Podium des Parlamentspräsidenten besetzt hatte.

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Demos in Ungarn: Die Wut auf Budapests Straßen

Foto: Balazs Mohai/ dpa

Die Opposition zeigt sich erstmals geeint

Seitdem dauern die Straßenproteste in Budapest und anderswo an. Allein am Sonntag demonstrierten rund 15.000 Menschen in der ungarischen Hauptstadt. Seit der Nacht zum Montag belagern Protestierende das Gebäude des öffentlichen Rundfunks, der über die Demonstrationen nur sehr eingeschränkt berichtet.

Neu an den Protesten ist, dass in ihnen erstmals überhaupt in mehr als acht Jahren Orbán-Regierung das gesamte Nicht-Regierungsspektrum auftritt - neben Zivilorganisationen und Gewerkschaften auch alle parlamentarischen Oppositionsparteien, einschließlich der ehemals rechtsextremen Jobbik-Partei, die seit einigen Jahren um eine Wende zu einer rechtskonservativen Volkspartei bemüht ist. "Dieser Konsens ist überraschend, denn nach dem Zwei-Drittel-Wahlsieg von Orbán im April herrschte in der Opposition große Apathie", sagt der Politologe Péter Krekó vom Budapester Institut Political Capital dem SPIEGEL. "Jetzt ist der so viel beschworene Zusammenschluss der Opposition zustande gekommen."

Wohl auch, weil das "Sklavereigesetz" einen so breiten Unmut in der Öffentlichkeit hervorruft wie selten. Tatsächlich soll das Gesetz gravierende soziale Probleme lösen, die Orbáns System überhaupt erst geschaffen hat - in einer Weise, die viele Ungarn als demütigend empfinden. Im Land herrscht massiver Arbeitskräftemangel, bedingt durch die starke Abwanderung. Diese wiederum ist eine Folge der Unzufriedenheit mit Orbáns System.

In den vergangenen acht Jahren sind rund 600.000 eher gut ausgebildete Menschen aus Ungarn abgewandert, weil der öffentliche Dienst, vor allem das Bildungs- und Gesundheitswesen, schlecht organisiert und unterfinanziert sind. Zudem hängen private Unternehmen häufig vom Wohlwollen der Regierung ab. Hinzu kommt ein bedrückendes öffentliches Klima, in dem viele nicht mehr wagen, offen ihre Meinung zu äußern. Vor diesem Hintergrund erscheint es vielen zynisch, das Problem des Arbeitskräftemangels einfach mit der Erhöhung der Überstundenzahl zu beheben.

"Arroganz der Macht"

Doch es geht bei den Protesten nicht nur um das "Sklavereigesetz". Ebenfalls am vergangenen Mittwoch wurde ein Gesetz über die neu zu schaffenden Verwaltungsgerichte verabschiedet. Anders als herkömmliche Gerichte stehen sie unter der Kontrolle des Justizministeriums. Unabhängige Juristen befürchten, dass diesen neuen Gerichten alle Fälle zugewiesen werden, bei denen die Regierung ein bestimmtes Urteil wünscht. Ungarische Bürgerrechtsorganisationen sprechen von einem weiteren Schlag gegen die ohnehin mangelnde Unabhängigkeit der Justiz.

Nicht nur an diesen Gesetzen zeigt sich, was der Politologe Péter Krekó als "Arroganz der Macht in einem zunehmend autoritären, hybriden System" bezeichnet. In diesem Jahr etwa verabschiedete Orbáns Regierung repressive Gesetze gegen Nichtregierungsorganisationen, schränkte das Demonstrationsrecht ein oder untersagte Obdachlosen den "lebensführenden Aufenthalt" im öffentlichen Raum. Umfragen ergeben, dass selbst viele Anhänger der Orbán-Partei Fidesz zum Teil nicht mit solchen Maßnahmen einverstanden sind. Auch wächst allgemein der Unmut über Missstände im Land wie etwa die verbreitete politische Korruption.

Dennoch deuten die derzeitigen Reaktionen der Orbán-Regierung auf die Proteste nicht darauf hin, dass es irgendeine Art von Einlenken geben wird. Anders als im Herbst 2014 ziehen Politiker aus Orbáns Partei Fidesz und regierungsnahe Medien in einer Weise über die Demonstranten her, wie man es eher in Russland oder der Türkei vermuten würde. Hinter den Protesten stünden "Provokateure", "ausländische Straftäter", eine "kleine, aggressive Minderheit", der US-Börsenmilliardär George Soros und Leute, die Ungarn mit "Migranten überschwemmen" wollten.


Zusammengefasst: Am vergangenen Mittwoch verabschiedete das Parlament in Ungarn ein Gesetz, das die jährliche mögliche Überstundenzahl von 250 auf 400 erhöht und den Arbeitgebern mehr Zeit gibt, die Mehrarbeit zu vergüten. Gegen diese Novelle gehen seither Tausende Ungarn auf die Straße. Bei den Protesten zeigt sich die Opposition erstmals seit Jahren geeint. Regierungsnahe Medien hetzen gegen die Demonstranten.

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