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Ungarn und die EU: Es ist kompliziert

Foto: Darko Vojinovic/ AP

EU-Kontroverse um Ungarn Danke für diesen Affront!

Mit seinem harten Kurs gegen Flüchtlinge und Freiheiten hat Viktor Orbán viele in der EU gegen sich aufgebracht. Nun erhält Ungarns Premier plötzlich Zuspruch - weil Luxemburgs Außenminister der Kragen geplatzt ist.

Besser hätte es sich Viktor Orbán nicht wünschen können. Selten hat der ungarische Regierungschef in den vergangenen Jahren ungewollt so viel Schützenhilfe bekommen.

Das hat er dem luxemburgischen Außenminister Jean Asselborn zu verdanken, der wutentbrannt polterte, wegen der massiven Verletzung von EU-Grundwerten solle Ungarn "vorübergehend oder notfalls für immer" aus der EU ausgeschlossen werden. Unter Politikern in ganz Europa - von links bis rechts, von Ost bis West - löste diese Äußerung scharfe Kritik aus. "Megafon-Diplomatie", lauteten die Kommentare, "unsinnige Gespensterdiskussion" und "nicht hilfreiche, radikale Statements".

Am Freitag kommen die EU-Staats- und Regierungschefs in Bratislava zu einem Gipfeltreffen zusammen, um nach dem Brexit sowie angesichts von Flüchtlingskrise und Terrorgefahr über die Zukunft der EU zu beraten. In Ungarn selbst steht am 2. Oktober das Referendum über die EU-Flüchtlingsquote an.

Vor diesen beiden Terminen präsentiert sich Orbán seit Längerem als Mahner, der vor dem Zusammenbruch Europas warnt und sich zum Retter des Abendlands stilisiert. Eine brachiale Forderung wie die von Asselborn kommt ihm in dieser Situation sehr gelegen.

Orbán beleidigt EU-Spitzenpolitiker

In Ungarn wird die Lage so wahrgenommen: Orbán thematisiert die "Migrantenflut" und den dadurch vermeintlich drohenden europäischen Untergang. Deswegen stellt ein nicht unerheblicher Teil westeuropäischer Politiker Ungarn an den Pranger. Darauf wiederum reagieren nicht nur die Ungarn, sondern auch ihre osteuropäischen Nachbarn sehr empfindlich.

Zumindest für den Augenblick lenkt diese Wahrnehmung davon ab, dass Viktor Orbán selbst pausenlos immer hanebüchenere Anklagen und unsinnige Forderungen an die Adresse der Europäischen Union richtet.

Am vergangenen Wochenende beispielsweise bezeichnete er bei einem Treffen seiner Parteielite führende EU-Politiker, darunter Jean-Claude Juncker, Guy Verhofstadt und Martin Schulz, als Nihilisten. Sie brächten absichtlich muslimische Migranten nach Europa, um das "christliche Europa im Schnelldurchlauf zu vernichten" und konservativ-christliche Parteien ein für alle Mal von der Macht zu verdrängen.

Am Montag schimpfte Orbán im Budapester Parlament, die EU-Politik führe Europa in eine "zivilisatorische Katastrophe". Indem es "schön langsam immer mehr Muslime" in Europa gebe, verlören die Europäer ihre Werte und ihr Wesen. Deshalb werde er, so Orbán, auf dem EU-Gipfel von Bratislava eine "Migrantenpolitik der Selbstverteidigung" fordern.

"Hallo, Diktator!"

Nicht nur über solche dumpfen Äußerungen sind viele europäische Politiker, darunter auch Jean Asselborn, offenbar zunehmend frustriert. Frustrierend ist für viele auch, dass die seit Jahren andauernden Debatten um die Folgen, die es haben müsste, wenn ein EU-Mitgliedsland ständig die Grundwerte der Gemeinschaft verletzt, zu keinem greifbaren Ergebnis geführt haben.

Doch nicht nur das: Orbán hat die EU in der Diskussion um Grundwerte auch regelrecht vorgeführt.

Viele kleine, aber letztlich bedeutungslose Zugeständnisse bei umstrittenen Regeln im Medienbereich, in der Justiz oder in der seit 2012 geltenden neuen Verfassung brachten Kritiker zum Schweigen. Was aber blieb: die eingeschränkte Pressefreiheit in Ungarn, problematische Bestimmungen in der Verfassung, Eingriffe in die Unabhängigkeit der Justiz, antidemokratische Gesetze und autoritäre Regierungsformen.

Noch vor einiger Zeit schien sich die EU-Führung, ähnlich wie einst im Fall Berlusconi, mit dem lästigen Problem Orbán eingerichtet zu haben - ein ungezogenes Kind eben, mit dem zu zweit niemand abgelichtet werden wollte und das der EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker auf EU-Treffen mit "Hallo, Diktator!" begrüßte.

Dann kam die Flüchtlingskrise. Orbán nutzte sie, um aus einem innenpolitischen Tief herauszufinden und einen drohenden Machtverlust abzuwenden. Zugleich entwickelte er sich zum ernsthaften Herausforderer der EU in ihrer derzeitigen Form.

Ein entschiedenes Nein zu Flüchtlingsquoten

In der Ablehnung der EU-Flüchtlingspolitik schaffte es Viktor Orbán in den vergangenen anderthalb Jahren, die Visegrád-Länder - neben Ungarn Polen, Tschechien und die Slowakei - sowie eingeschränkt auch weitere osteuropäische EU-Mitglieder hinter sich zu bringen.

Zum Gipfel in Bratislava treten alle östlichen EU-Länder denn auch mit einem mehr oder weniger entschiedenen Nein zu Flüchtlingsquoten an, außerdem fordern sie eine gemeinsame europäische Armee und den strikten militärischen Schutz der EU-Außengrenzen. Orbán etwa schwebt vor, im Mittelmeer "Flüchtlingsboote zu versenken" und die - vorher aufgegriffenen - Insassen "in Lager für zwei bis drei Millionen Menschen" nach Libyen zu bringen. Er ruft andere EU-Länder dazu auf, dem Beispiel des ungarischen Flüchtlingsreferendums zu folgen, um "Brüssel zu stoppen".

Doch der ungarische Regierungschef sieht sich auch darüber hinaus als großer Reformer der EU. Zusammengefasst lautet seine EU-Konzeption: Wirtschafts- statt Werteunion. Auch darin folgen ihm die anderen Visegrád-Staaten in gewissem Maße. Ein Programm dafür legten sie bisher nicht vor. Im Gespräch mit SPIEGEL ONLINE formuliert es der ungarische Regierungssprecher Zoltán Kovács so: "Wir möchten zurück zu einem Europa der Nationen, in dem die nationalen Parlamente mehr respektiert werden und in dem es mehr Beschränkungen für europäische Institutionen gibt. Ungarn fühlt sich gestört durch die von der EU in Gang gesetzten Debatten um Dinge wie das Mediengesetz oder die Verfassung, denn diese Debatten waren politische Waffen gegen Ungarn."

Luxemburgs Außenminister Asselborn aber bleibt bei seiner Kritik. Seine Äußerungen seien zwar "etwas unkonventionell" und "ein plumper Aufschrei" gewesen, sagte er im Deutschlandfunk. Aber: "Ich stehe zu dem, was ich gesagt habe."


Zusammengefasst: Ungarns Regierungschef Viktor Orbán hat die EU gegen sich aufgebracht. Er hat nicht nur viele Freiheiten in seinem Land eingeschränkt, er fährt auch einen harten Kurs in der Flüchtlingspolitik. Für viele in der EU ist das mit den Grundwerten der Union nicht mehr zu vereinbaren. Doch was tun? Bei vielen EU-Politikern - wie etwa Luxemburgs Außenminister - wächst der Frust. Doch dessen Forderung, Ungarn solle aus der EU austreten, hatte einen für ihn ungewünschten Effekt: Viele EU-Politiker halten das für überzogen und stärken Ungarn den Rücken.

VIDEO: Viktor Orbáns harter Kurs gegen Flüchtlinge

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