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Parlamentswahl in Ungarn Orbán gegen den Rest

Kann Premier Viktor Orbán seinen antidemokratischen Kurs fortsetzen? Ungarn steht vor der wohl wichtigsten Abstimmung seiner jüngeren Geschichte. Alle Hintergründe zur Wahl.

In Ungarn sind Politik und Gesellschaft so tief gespalten wie nie zuvor seit dem Ende der kommunistischen Diktatur 1990. Doch in einem stimmen alle politische Akteure überein: Die Parlamentswahl am Sonntag ist die wichtigste in den vergangenen 28 Jahren. Denn das Votum wird darüber entscheiden, ob Viktor Orbáns in vielerlei Hinsicht antidemokratische Ordnung bestehen bleibt - oder nicht.

Auch für Europa ist das Wahlergebnis von großer Bedeutung. Orbán ist der erste europäische Regierungschef, der das Konzept eines "illiberalen Staates", wie es der Premier selbst formuliert hat, in einem EU-Mitgliedsland umgesetzt hat - ohne entscheidenden Widerstand aus Brüssel. Die meisten rechtsstaatlichen Institutionen - wie die Justiz - sind nur noch eingeschränkt unabhängig oder - wie das Parlament - in ihrer Macht ausgehöhlt. Öffentlich-rechtliche und private Medien stehen überwiegend unter Regierungskontrolle.

Doch nicht nur damit hat Orbán Europa gespalten, sondern auch mit seiner nationalistisch-demagogischen Rhetorik zur Flüchtlingspolitik und zur "Brüsseler Reichsbürokratie".

Welche Folgen hätte ein erneuter Wahlsieg Orbans? Wie stehen seine Chancen? Die wichtigsten Hintergründe zur Abstimmung in Ungarn:

Wer tritt zur Wahl an?

Insgesamt nehmen 23 Parteien und Wahlbündnisse an der Abstimmung teil. Echte Chancen auf einen Einzug ins Parlament haben sechs davon oder zumindest deren Einzelkandidaten:

  • Viktor Orbáns regierende Partei Fidesz (Bund Junger Demokraten - Ungarischer Bürgerbund). Ihr angeschlossen ist die kleine Christdemokratische Volkspartei KDNP. Nominell hat Fidesz-KDNP ein christdemokratisch-national-konservatives Profil und ist Mitglied in der konservativen Europäischen Volkspartei (EPP), zu der auch CDU und CSU gehören.
  • Die ehemals rechtsextreme Partei Jobbik (Bewegung für ein besseres und rechteres Ungarn). Unter ihrem Parteichef Gábor Vona vollzog Jobbik in den vergangenen drei Jahren eine Wende hin zur gemäßigteren Rechtspartei. Allerdings sind weiterhin Rechtsradikale in Führungspositionen vertreten.
  • Die Ungarische Sozialistische Partei (MSZP), die Nachfolgepartei der einstigen Kommunisten. Zur Wahl tritt die MSZP mit der links-ökosozialen Kleinpartei Párbeszéd (Dialog) an, die auch den Spitzenkandidaten stellt: Gergely Karácsony, Bürgermeister des 14. Budapester Bezirks und ein in Ungarn populärer Jungpolitiker.
  • Die liberal-grün-alternative Partei LMP (Politik kann anders sein) mit ihrer Spitzenkandidatin Bernadett Szél, die wegen ihrer persönlichen Integrität eine der anerkanntesten und beliebtesten Politikerinnen Ungarns ist.
  • Die linksliberale Demokratische Koalition (DK) des ehemaligen sozialistischen Premiers Ferenc Gyurcsány. In seine Regierungszeit von 2004 bis 2009 fielen zahlreiche schwerwiegende Korruptionsaffären und andere Skandale, die Orbáns Zwei-Drittel-Wahlsieg im Frühjahr 2010 möglich machten.
  • Die Protest- und Jugendpartei Momentum, die von jungen proeuropäischen Akademikern und Studenten gegründet wurde. Sie entstand letztes Jahr als erfolgreiche Bewegung gegen die Budapester Olympia-Kandidatur.
Parlament in Budapest

Parlament in Budapest

Foto: Laszlo Balogh/ REUTERS

Ungarns Wahlsystem: "Frei, aber unfair"?

Gewählt werden 199 Parlamentsabgeordnete, darunter 106 Direktkandidaten in Einzelwahlkreisen. Die Entscheidungen fallen hier in einem einzigen Wahlgang nach Mehrheitswahlrecht. 93 Kandidaten ziehen über Parteilisten nach einem komplexen Verhältniswahlrecht ins Parlament ein.

Das Wahlrecht bevorteilt grundsätzlich große Parteien. In Ungarn ist das lediglich Orbáns Fidesz. Um in Einzelwahlkreisen eine Chance gegen Fidesz zu haben, müssen sich die kleineren Oppositionsparteien möglichst auf einen gemeinsamen Kandidaten einigen, was bisher nur teilweise der Fall ist.

Bei der Neugestaltung des Wahlrechts 2013 wurden die Grenzen der Wahlkreise außerdem zum Vorteil von Fidesz gezogen. 2014 reichten rund 44 Prozent der Stimmen für Orbáns Triumph - damals holte seine Partei eine Zweidrittelmehrheit. Nichtregierungsorganisationen sprechen wegen der Rahmenbedingungen von "freien, aber unfairen Wahlen".

Welche Themen bestimmen den Wahlkampf?

Kein postkommunistischer Wahlkampf war in Ungarn so zugespitzt und zugleich so inhaltsleer wie der jetzige. Orbáns einziges Thema: Er warnt immer vor dem Untergang des ungarischen Staates und der Nation im Falle seiner Niederlage - weil die angeblich vom US-Börsenmilliardär George Soros bezahlte und gelenkte Opposition das Land mit "Migranten überfluten" werde. Die Oppositionsparteien hingegen riefen allesamt zur Rettung von Rechtsstaat und Demokratie auf.

Wie sehen die Umfragen aus?

Unter den Wählern, die sich bereits festgelegt haben, liegt Fidesz klar vorne. Allerdings wünscht sich laut Umfragen zugleich eine knappe absolute Mehrheit einen Regierungswechsel. Wahlprognosen sind in Ungarn jedoch für gewöhnlich sehr unsicher. Deshalb wagt kein Meinungsforschungsinstitut eine klare Voraussage. Am wahrscheinlichsten ist aber, dass Orbán und seine Partei eine absolute Mehrheit gewinnen, jedoch ihre Zweidrittelmehrheit verlieren.

Was wären die Folgen eines erneuten Orbán-Erfolgs?

Dass Orbán nach einem Wahlsieg einen pragmatischeren Kurs verfolgt, ist unwahrscheinlich - schon nach seinem Wahlsieg 2014 hatte er eine Fidesz-interne Diskussion darum mit einem Machtwort beendet. Vermutlich wird der Premier versuchen, den "illiberalen Staat" auszubauen und sich weiterhin aggressiver nationalistischer Rhetorik bedienen. Schließlich muss er von den zahlreichen Korruptionsaffären in seinem Umfeld ablenken.

Für die unmittelbare Zeit nach der Wahl verspricht Orbán eine weitere gesetzliche Gängelung von Nichtregierungsorganisationen und eine Art Rachefeldzug gegen Kritiker: In seiner Rede zum Nationalfeiertag am 15. März sagte er: "Wir sind sanfte und freundliche Menschen, aber wir sind weder blind noch tölpelhaft. Nach der Wahl werden wir uns natürlich Genugtuung verschaffen - moralische, politische und auch juristische Genugtuung."

Was würde ein Sieg der Oppositionsparteien bedeuten?

Alle Oppositionsparteien haben eine Koalition mit Fidesz strikt ausgeschlossen. Als gemeinsamen Nenner versprechen sowohl die Rechtsaußenpartei Jobbik als auch die linken und liberalen Oppositionsparteien eine Wiederherstellung des Rechtsstaates, transparentes Regieren, eine Untersuchung von Korruptionsfällen sowie eine Verbesserung der Beziehungen zur Europäischen Union. Da jedoch wohl keine Oppositionspartei allein Regierungsstärke erreichen kann, würde es zu schwierigen Koalitionsverhandlungen und möglicherweise einer längeren Periode politischer Instabilität kommen.

Wie würde Orbán auf einen Machtverlust reagieren?

Als Orbán nach seiner ersten Amtszeit von 1998 bis 2002 eine sicher geglaubte Wahl verlor, trommelte er Hunderttausende Anhänger zusammen und verkündete: "Die Heimat kann nicht in der Opposition sein." Nach seiner erneuten Wahlniederlage 2006 unterstützte Orbán einige Monate später rechtsradikale Straßenunruhen. Viele Beobachter gehen deshalb davon aus, dass der Premier eine Niederlage auch diesmal nicht ohne Weiteres hinnehmen würde. Ohnehin würde er auch in der Opposition Ungarns starker Mann bleiben, da er und seine Partei in den vergangenen acht Jahren genügend institutionelle Blockademöglichkeiten geschaffen haben, um jede nicht Fidesz-geführte Regierung in ihrer Arbeit behindern zu können.

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