Unruhen in Ägypten Gewalt kehrt auf den Tahrir-Platz zurück

Mindestens zwei Tote, fast 700 Verletzte: Neun Tage vor Beginn der ägyptischen Parlamentswahlen herrscht im Stadtzentrum von Kairo wieder das Chaos. Die Straßenschlachten zwischen Protestierenden und Ordnungskräften zeigen, dass der Militärrat die Lage längst nicht im Griff hat.
Unruhen in Ägypten: Gewalt kehrt auf den Tahrir-Platz zurück

Unruhen in Ägypten: Gewalt kehrt auf den Tahrir-Platz zurück

Foto: KHALED DESOUKI/ AFP

Es sind Szenen, wie sie Kairo seit der Abdankung von Präsident Husni Mubarak im Februar nicht mehr erlebt hat: Auf dem Tahrir-Platz im Herzen Kairos lieferten sich Tausende Demonstrierende und Ordnungskräfte am Samstag bis tief in die Nacht Straßenschlachten. Mindestens zwei Menschen kamen dabei nach Angaben des Gesundheitsministeriums ums Leben, es gab fast 700 Verletzte. Die Einsatzpolizei trieb die Menge immer wieder mit Tränengas auseinander, bevor sich die Protestler erneut sammelten.

Die Ausschreitungen hatten begonnen, als die Polizei am Samstag ein Protest-Camp auflösen wollte. Etwa 100 Demonstranten hatten sich auf dem Platz niedergelassen und gefordert, der herrschende Militärrat müsse die Macht im Nilland umgehend an eine zivile Regierung übergeben. Nachdem es zu ersten Rangeleien zwischen Demonstranten und Polizei gekommen war, mobilisierten Aktivisten über soziale Medien Verstärkung. Als es dunkel wurde, standen sich bereits etwa 5000 Protestierende und mehrere Hundertschaften Polizei gegenüber.

Die Randale im Stadtzentrum lassen für die in nur neun Tagen startenden Parlamentswahlen in Ägypten nichts Gutes ahnen. Denn sie zeigen, dass der herrschende Militärrat die Lage nicht im Griff hat. Nur so konnte es passieren, dass die Auflösung eines harmlosen Sit-Ins zu einer erneuten Machtprobe zwischen Volk und Obrigkeit wurde.

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Proteste in Kairo: Schlagstöcke, Tränengas, Feuer

Foto: KHALED DESOUKI/ AFP

In der Nacht war noch nicht abzusehen, wer sie für sich entscheiden würde: Die Jugendorganisation "6. April" rief den Innenminister Mansur al-Essawi zum sofortigen Rücktritt auf, da die Polizei wehrlose Zivilisten angegriffen habe. Auch die mächtige Muslimbrüderschaft verurteilte das Vorgehen der Sicherheitskräfte und drohte, wenn die Polizei nicht den Rückzug antrete, würde die Brüderschaft ihre Unterstützer zum Tahrir-Platz rufen.

Späte Dämmerung

Befeuert wurden die Ausschreitungen am Samstag von der wachsende Frustration vieler Aktivisten der Revolution. Die Jugendlichen, die im Januar und Februar Leib und Leben für den Sturz des Regimes eingesetzt hatten, sehen sich nun, im Vorfeld der Wahlen, an den Rand der politischen Bühne gedrängt. Daran sind sie nicht ganz unschuldig: Viele der Jugendlichen, die während der Revolution aktiv waren, haben es versäumt, sich in das politische Leben einzuklinken. Zu spät dämmert ihnen nun, dass sie sich zwar als Gralshüter der Revolution sehen mögen, nach den Wahlen aber in der Bedeutungslosigkeit verschwinden werden. "Wir haben den anderen das Feld überlassen und werden bei den Wahlen die Quittung dafür kriegen", sagt Mahmud Afifi, einer der Organisatoren der Revolution im Frühjahr.

Das Problem der Jugendlichen vom Tahrir-Platz ist, dass sich viele von ihnen in der Rolle des Beobachters gefallen. Sie twittern lieber über Missstände, als diese zu beheben. So haben sie gegen tief in der Gesellschaft verwurzelte Organisationen wie den Muslimbrüdern - die seit über 80 Jahren gute Werke tun und so Millionen armer Ägypter zu loyalen Anhängern machen konnten - keine Chance.

Suppenküche schlägt Facebook-Diskussionsforum: Es werden die Parteien des politischen Islam sein, die sich bei den Wahlen als Gewinner der Revolution in Ägypten behaupten werden. Am Freitag hatten die Muslimbruderschaft und die Parteien der radikalen Salafistenbewegung schon einmal bewiesen, wer die ägyptischen Massen lenkt: Auf ihren Aufruf hin gingen in Kairo und Alexandria Hunderttausende auf die Straße.

Drei Sorgen der Jugend

Die ägyptische Jugend sieht sich gleich von drei Seiten in die Zange genommen: Zum einen wirft sie den jetzt herrschenden Generälen vor, die Macht auch nach den Wahlen nicht abgeben zu wollen. Zum anderen fürchtet sie, dass so genannte "Felul", Blockflöten des alten Regimes, ins neue Parlament einziehen könnten. "Diese Leute haben das politische Leben in Ägypten über Jahrzehnte korrumpiert, und ihre Seilschaften sind immer noch stark", sagt Afif. Durch eine Kampagne, in der ehemalige Mubarak-Anhänger bloßgestellt werden, versuchen Gruppen jugendlicher Revolutionäre zu verhindern, dass das neue Parlament von alten Kadern durchsetzt sein wird. "Aber ganz schaffen werden wir das nicht."

Die dritte Sorge der jungen Generation ist vielleicht die größte: Nämlich dass die Wahlen das Ende des kurzen Sommers der Freiheit in Ägypten einläuten könnten. Wenn sich die Vorhersagen einiger Beobachter bestätigen und die Islamisten weit über 50 Prozent der Sitze im Parlament erringen, könnte Ägypten bald ganz anders aussehen, fürchtet Amra Ali von der Bewegung "6. April". "Wenn die Islamisten mit großem Vorsprung gewinnen, kann die Freiheit, die wir uns erkämpft haben, schnell wieder vorbei sein."

Mit Material der Agenturen

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