
Unruhen in Ägypten Nacht der Plünderer
War das eine Bombe? Der Schreibtisch vibriert, das Neonlicht flackert. Es war jedenfalls kein Erdbeben wie 1992, als das Treppenhaus schwankte und im SPIEGEL-Büro Kalender und auf Pressholz befestigte Landkarten auf den Boden stürzten. Nach einer Druckwelle ebbt das Beben diesmal unvermittelt ab. Auf der Fawakih-Straße verbreitet sich ein eigenartiger Brandgeruch.
Es ist die Nacht von Samstag auf Sonntag in Kairo. Nicht weit vom schmucken Hochhaus der Deutsch-Arabischen Handelskammer an der Ecke der Soleiman-Abaza-Straße sind Sprengkörper explodiert, wahrscheinlich Handgranaten. Normalerweise parken hier reiche Mercedes- und BMW-Fahrer an Fastfood-Restaurants, Juweliergeschäften und Edelboutiquen. Doch jetzt herrscht bedrückende Leere auf der Nobelmeile. Ein paar feine Damen und beunruhigte Messieurs reißen die Holzgatter vor ihren Fenstern auf und suchen nach der Ursache der Explosionen.
Eigentlich herrscht Ausgangssperre, sie wurde sogar auf 16 Stunden am Tag ausgedehnt. Doch hier haben Unbekannte ihr Granaten aus dem fahrenden Auto geworfen. Zu Schaden ist zwar niemand gekommen, doch ein unbestimmtes Angstgefühl greift um sich. Es ist die Angst vor Plünderern und Kriminellen, die aus dem Gefängnis geflohen sind. Es ist die Furcht vor Rechtlosigkeit und Anarchie.
Immer mehr Menschen zieht es auf die Straße. "Wann kommt die Polizei?", fragt eine hochschwangere Frau im weinroten Morgenmantel. "Sind wir auf uns allein gestellt? Wird es Tote geben?"
Keine Antwort, nur Aufmunterungen. "Wir müssen auf alles gefasst sein", mahnt der ergraute Architekt Muhammad Abdul Chabir, "das Fernsehen ruft uns doch zur Selbstverteidigung auf."
Steht also doch das Schlimmste bevor? Verletzte, vielleicht auch Tote wie auf der Niluferstraße und anderswo in der Hauptstadt und in den Provinzen.
Hatte es bei den Unruhen vor 18 Jahren "nur" etwas mehr als tausend Tote gegeben, so könnte die Opferzahl diesmal ein Vielfaches höher sein, befürchten auf die Straße geeilte Nachbarn. Allen voran ein Armeeoffizier im Ruhestand und ein in Zivil gekleideter Polizeileutnant. "Wir werden Kämpfen", sagt er. Die Frau im Morgenmantel schluchzt.
"Hat jemand Waffen? Die Hunde kommen näher!"
An der Kreuzung vor dem Al-Manar-Hotel versammelten sich 15 Anwohner. In einer Stunde wächst die Gruppe auf das Doppelte an. "Wir müssen uns bewaffnen," schreit ein Twen in dunkelblauen Overall. "Hat jemand Waffen? Denn die Hunde kommen jetzt näher." Waffen hatte keiner. Türhüter, Parkwächter und der Inhaber eines Elektrogeschäfts verteilen eilig herbeigeholte Aluminiumrohre, Holzlatten und Schlachtermesser.
In nur einer halben Stunde entsteht eine Bürgerwehr. Ohne Anführer, ohne besondere Vorbereitungen. Aber ein Gemeinschaftsgefühl verbindet sie alle. "Abu Salah", wendet sich der Gemüseverkäufer Sobhi an mich, "schließt du dich uns an?" Er drückt mir eine schwere Holzkeule in die Hand. Ehe ich antworten kann, entwindet mir der Apotheker Murad die "Waffe" aus der Hand. "Er gehört zu uns, aber wir müssen ihn verteidigen, er ist der Älteste unter uns." Ob ich Ratschläge habe? Den Befehl übernehmen wolle? In der patriarchalischen Gesellschaft Ägyptens wäre das jetzt eine Selbstverständlichkeit. Ich lehne das ehrenvolle Ansinnen ab und erinnere die Nachbarn an das Prinzip "Allahu ma'a al sabirin" "Allah ist mit den Ausharrenden". Weiter komme ich nicht. Eine noch jugendliche, metallene Lautsprecherstimme gellt durch die Januarnacht: " Haltet zusammen, teilt euch in Wachtrupps auf, Allhu Akbar."
Die Worte des Imams Scheich Ali aus der nahen Mustafa Mahmud-Moschee - jeder kennt seinen Tonfall - ist eine willkommene Ermutigung. Dann dringt aus unbestimmbarer Entfernung ein sich langsam näherndes Stimmengewirr.
Ein Wir-Gefühl schweißt die Nachbarschaft zusammen
Es sollen entlassene Sträflinge sein, die im Anmarsch sind, angeblich haben sie bereits Geschäfte in der nahen Shari'Schahah-Straße geplündert. Jugendliche aus Nachbarstraßen stoßen zu uns. Sie berichten, dass auch in der Umgebung bereits "Volkswachen" entstanden sind. Moslems, Christen, Atheisten - all das spielt keine Rolle mehr. Ich schaue mich um, "inspiziere" als ungewollte altersbedingte Respektsperson in Begleitung von zwei Jura-Studenten die Nachbarstraßen.
Überall dasselbe Bild.
Quer durch die Altersgrenzen und sozialen Schichten finden sich selbst in kleinen Gassen des linksnilischen Mohandissin-Viertels zur Selbstverteidigung entschlossene Ägypter zusammen. Viele kannten sich bis dahin gar nicht oder pflegten oberflächliche Bekanntschaften.
Die Stimmen kommen jetzt rasch näher. Schüsse, Schreie, dumpfes Aufprallen von Holzkeulen auf Metall, aus einem Hauseingang dröhnt ein überlaut eingestellter CD-Spieler Koranverse.
Die weiße Schleife der Bürgerwehr
Junge Leute zerren mich aus Sorge vor dem Schlimmsten aus der "Schusslinie". Eine Gruppe von bewaffneten Halbstarken ist bis zum Midan Ath Thaura gekommen, dem "Platz der Revolution" direkt vor dem Feine-Leute-Klub "Nadi Al-Said". Dann stürzen etwa 30 Jugendliche aus unserem Straßenblock mit Stöcken, Keulen und Messern auf die Plündernden und Randalierer.
Das Handgemenge endet im Blutvergießen. Ein etwa 35-jähriges Mitglied der Bürgerwehr verliert ein Auge, stürzt auf den Asphalt, wir halten ihn sogar für tot. Ein weiterer erhält einen Pistolenschuss ins linke Bein. Beide überleben. Die Angreifer ziehen sich zurück, einige bluten. Vier bleiben verletzt am Boden liegen. Verstärkungen treffen ein, die Ansammlung der Selbstverteidiger wächst auf über 100 an.
Zurück ins Büro. Noch geht der Fahrstuhl. Wichtige Papiere, Geld und wichtige Adressbücher in eine unauffällige schwarze Umhängetasche, wieder auf die Straße. Ein Motorradfahrer rast auf unsere Gruppe zu. "Bindet euch eine Schleife aus weißem Stoff um den linken Arm." Mir bindet der höchstens 21 Jahre alte Büglerjunge Mahmud eine weiße Schleife an den oberen Mantelknopf. " Niemals abnehmen". Grund dafür: Die Bürgerwehren haben keine Uniform, die Mobiltelefonnetze sind abgestellt - wie soll man so in der Nacht Freund von Feind unterscheiden?
Wieder Explosionen. Wieder Unbekannte im Anmarsch. Diesmal mit regelrechten Kriegsgeschrei. Ich habe Angst; Erinnerungen an Grenzerlebnisse in Kriegen und Bürgerkriegen im Libanon, Iran, Zypern, Sudan treiben mich zur Flucht. Verrat an den alten neuen Freunden. Dennoch.
Sie wollen mich halten. "Die Halunken stecken überall, bleib hier, wir schützen dich." Ein Vierteljahrhundert lebe ich mit diesen Nachbarn, ab heute sind alle meine Freunde. Auch die, die ich nicht mit Namen kannte.
Verbrecher übernehmen Polizei- und Krankenwagen
Ich versuche es über den Platz an der nun doch geschlossenen Moschee am Mustafa-Mahmud-Platz. Keine Menschenseele. Keine Polizei! Nein, doch nicht. Da kommt doch ein blauer Polizei-Hyundai. Die Insassen schießen um sich. Sie sehen mich nicht. Dann eine MP-Salve aus einem Bauverschlag neben der NSBG-Bank. Volltreffer - der Vorderreifen des Fahrzeugs ist getroffen. Quietschend rumpelt der Wagen weiter und biegt ab in Richtung As Salam-Krankenhaus.
Aber dann springen zwei wild gestikulierende ältere Männer heraus. Zerrissenes Hemd. Pistolen. Das sind keine Polizisten. Dann stimmt das Gerücht, dass freigelassene Verbrecher Polizeiwagen kapern, Waffen und Munition aus den verlassenen Polizeistationen stehlen. Auch Krankenwagen nehmen sich die Plünderer - Polizisten haben sie offenbar nicht zu fürchten.
Ich komme an 19 Sperren der Bürgerwehr vorbei. Die weiße Schleife wirkt Wunder. Vor dem verlassenen Nabila-Hotel am Gamiat-Ad-Daul-Al-Arabiya-Boulevard, steht ein unbeleuchtetes ockergelbes Kettenfahrzeug der Armee.
"Wir kontrollieren Autos", sagen die Soldaten.
"Welche Autos?", frage ich. Sie lächeln verlegen.
"Ist die Brücke über den Nilarm frei? Ich will ins Marriott-Hotel", erkundige ich mich.
"Sieh dich vor, oder bleib bei uns", sagen sie.
"Warum schießt ihr nicht auf die Plünderer und Verbrecher, vor denen ich fliehe?"
"Wo sind die denn?"
"Überall, zum Beispiel dahinten auf dieser Straße, am Farghali-Fruchtsaftladen."
"Wir haben keinen Schießbefehl - es sei denn, wir werden angegriffen."
"Aber das Volk liebt euch?"
"Und wir lieben das Volk"
Noch 25 Minuten Fußmarsch, rasch über die ungeschützte Brücke laufen, und dann unter der Hochstraße ins Marriott. Sie wollen mir nicht glauben, dass ich aus Muhandissin dorthin geschafft hatte. Ich auch nicht.