
Tunesien: Freiheitsliebe, Chaos und Gewalt
Unruhen in Tunesien Vermummte feuern auf Polizisten
Tunis - Seit der Flucht des Präsidenten Zine el-Abidine Ben Ali herrscht in Tunesien der Ausnahmezustand. Nachdem sich die Unruhen am Vormittag etwas beruhigt hatten, patrouilliert nun das Militär durch Tunis. Soldaten bewachen öffentliche Gebäude mit Panzern, trotzdem hallen immer wieder Schüsse durch die Stadt. Auf der Flaniermeile Avenue Bourguiba waren bewaffnete Soldaten und Dutzende Polizisten mit Schlagstöcken zu sehen. Nach den Brandstiftungen der vergangenen Tage hing beißender Rauch über der Stadt.
Nach Angaben der Oppositionspartei PDP nahmen Polizisten einen Konvoi mit bewaffneten Männern fest, einige der Insassen flohen und lieferten sich Verfolgungsjagden mit den Einsatzkräften. Vermummte hätten zuvor aus einem nahe gelegenen Gebäude auf Polizisten gefeuert, als diese gerade ein Taxi durchsucht hätten, sagte ein Parteivertreter.
Die Polizei nahm den Leiter der Leibgarde des gestürzten Präsidenten Ben Ali und mehrere seiner Mitarbeiter fest. Ihnen werde eine Verschwörung gegen die nationale Sicherheit vorgeworfen, berichtete die amtliche Nachrichtenagentur Tap. Insgesamt befinden sich nach Angaben aus Polizeikreisen 50 Verdächtige in Verwahrung. Sie sollen aus Krankenwagen und Mietwagen heraus auf Menschen geschossen haben.
Auch der frühere Sicherheitschef des gestürzten Präsidenten, General Ali Sériati, wurde nach Angaben der Nachrichtenagentur AFP festgenommen. Er sei im Süden des Landes beim Versuch, ins benachbarte Libyen zu fliehen, von Polizisten und Soldaten gefasst worden, berichtet die Agentur unter Berufung auf offizielle Kreise. Sériati sei anschließend nach Tunis gebracht und dort in Untersuchungshaft genommen worden.
Zeugenberichten zufolge wurde auch ein Neffe des gestürzten Präsidenten festgenommen. Kaïs Ben Ali sei mit zehn weiteren Menschen von der Armee im zentraltunesischen Msaken gefasst worden. Die Sicherheitskräfte seien alarmiert worden, da die Verdächtigen in Polizeifahrzeugen durch die Gegend gerast seien und wild um sich geschossen hätten, um Panik auszulösen.
Deutsch-französischer Fotograf gestorben
Am Sonntag wollte Ministerpräsident Mohammed Ghannouchi die Gespräche mit der Opposition über eine Regierung der nationalen Einheit fortsetzen. Ghannouchi gilt als gemäßigt und als guter Vermittler, ihn belastet nach Ansicht vieler Tunesier aber seine bisherige Nähe zur alten Regierung. Er hatte während der Proteste das harte Vorgehen des Staats gegen die Demonstranten verteidigt.
Als Übergangspräsident wurde Foued Mebazaa eingesetzt, auch er ein früherer Gefolgsmann Ben Alis. Mebazaa verspricht nun einen demokratischen Wandel, in eine "Regierung der nationalen Einheit" sollen auch oppositionelle Kräfte eingebunden werden. Mebazaa wird allerdings wie vielen aus dem ehemaligen Machtzirkel nachgesagt, autoritär und korrupt zu sein - dennoch ist er nicht ganz so unbeliebt wie andere Politiker des Landes.
Ein deutsch-französischer Fotograf wurde am Sonntagmorgen schon für tot erklärt, hängt nach Informationen von SPIEGEL ONLINE aber noch an lebenserhaltenden Maschinen - in "kritischem, aber stabilem" Zustand, wie es ein französischer Konsulatssprecher ausdrückte. Lucas Mebrouk Dolega ist 32 Jahre alt. Auf seinen Fotos hatte er Szenen aus einem verzweifelten Land eingefangen. Noch am Freitag war er mit seiner Kamera unterwegs - dann traf ihn eine Tränengasgranate am Kopf.

Tunesien-Revolution: Fotos von Lucas Mebrouk Dolega
Übergangspräsident verspricht demokratischen Wandel
Unklar ist, ob die Übergangsregierung wirklich wie versprochen einen demokratischen Machtwechsel ermöglicht und Wahlen zulässt oder ob nur der nächste autoritäre Herrscher kommt. Der Aufstand der Tunesier ist allerdings bereits jetzt Vorbild für Millionen von Arabern, die seit Jahrzehnten unter ihren korrupten Herrschern leiden. Oppositionelle Kräfte in zahlreichen Ländern reagierten am Wochenende entsprechend optimistisch. "Das tunesische Volk hat den Preis für die Freiheit bezahlt und den Tyrannen gestürzt", lobt die linke ägyptische Karama-Partei. Auch das al-Quds-Zentrum für politische Studien in Jordanien glaubt, dass andere Araber von der tunesischen Revolution lernen sollten. "Das Echo dieses beispiellosen Ereignisses in der arabischen Welt wird ohne Zweifel in mehr als einem Land der Region zu hören sein", schreibt die libanesische Zeitung "An-Nahar".
Im Jemen riefen am Sonntag rund tausend Studenten zum Sturz der Regierung auf. Menschenrechtsaktivisten schlossen sich der Menge an, die in der Hauptstadt Sanaa protestierte. Jemens Präsident Ali Abdullah Salih steht seit 32 Jahren an der Spitze des Landes. "Freies Tunis, Sanaa grüßt dich tausendmal", riefen die Studenten. Sie forderten auch andere arabische Völker zur "Revolution gegen ihre lügenden und verängstigten Anführer" auf. "Geht, bevor ihr abgesetzt werdet", stand auf einem Plakat.
Proteste auch in anderen Ländern
Schon am Freitagabend gesellten sich Dutzende Ägypter in Kairo zu einer Gruppe von Tunesiern, die vor der Botschaft ihres Landes das Ende der 23-jährigen Herrschaft Ben Alis feierten. "Hört den Tunesiern zu, jetzt seid ihr Ägypter an der Reihe", rief die Menge.
Vergangene Woche hatte US-Außenministerin Hillary Clinton arabische Herrscher gewarnt: "Die Menschen haben die Korruption in den Behörden und in den starren politischen Systemen satt." Wer keinen Wandel herbeiführe, würde "im Sand versinken", sagte sie vor Diplomaten und Geschäftsleuten in Katar.
Die meisten arabischen Herrscher beeilten sich - nachdem der erste Schock überwunden ist -, Position zu beziehen. Einige von ihnen solidarisierten sich mit den Revolutionären - möglicherweise auch, um ein Überspringen des revolutionären Funkens auf ihre eigene Bevölkerung zu verhindern. Das ägyptische Außenministerium betonte, es respektiere den Willen des tunesischen Volkes. Die regierungsnahe syrische Zeitung "al-Watan" schrieb: "Die Lektion von Tunesien kann kein arabisches Regime ignorieren."
Die Einzigen, die sich ohne Wenn und Aber auf die Seite des gestürzten Präsidenten Ben Ali stellen, sind die Saudis, die Ben Ali und seine Familie bei sich aufgenommen haben - und der libysche Staatschef Muammar al-Gaddafi.
Obwohl Gaddafi selbst schon seit mehr als 40 Jahren an der Macht ist, trägt er bis heute den Titel "Revolutionsführer". Andere Revolutionäre duldet er jedoch ungern neben sich. "Tunesien hat sich jetzt in ein Land verwandelt, das von Banden regiert wird", schimpft er. "Ich bin schmerzhaft berührt von dem, was in Tunesien geschieht", sagt er am Samstagabend im libyschen Fernsehen. Die Wut der Bürger im Nachbarland macht ihn offenbar nervös.