Unruhen in Xinjiang Han-Chinesen ziehen bewaffnet durch Ürümqi

Der Hass entlädt sich auf der Straße - die Situation in der Provinz Xinjiang spitzt sich immer weiter zu: Han-Chinesen zerstören uigurische Geschäfte, Uiguren demonstrieren erneut. Berichten zufolge sollen auch chinesische Einrichtungen in den Niederlanden und München angegriffen worden sein.

Peking - Sie sind mit Messern, Eisenstangen und Schaufel bewaffnet: Hunderte Han-Chinesen zogen wütend durch die Straßen der Provinzhauptstadt Ürümqi. Aufforderungen der Bereitschaftspolizei, anzuhalten, wurden von den Demonstranten missachtet.

Nach einem Bericht der Nachrichtenagentur Reuters haben die Han-Chinesen Polizeisperren durchbrochen und die Fensterscheiben von uigurischen Geschäften eingeworfen. Verkaufsstände von Muslimen wurden umgestürzt. Die Sicherheitskräfte gingen dem Bericht zufolge mit Tränengas gegen die Demonstranten vor.

Wie die amtliche chinesische Nachrichtenagentur Xinhua berichtet, spielten sich in der Hauptstadt der Provinz Xinjiang chaotische Szenen ab. Xinhua berichtete am Dienstag, "viele Menschen haben sich versammelt und laufen in Panik durch die Straßen".

Eine Rezeptionistin eines Hotels direkt am Platz des Volkes in Ürümqi berichtete der Deutschen Presse-Agentur dpa, vor dem Hotel hätten sich uigurische Demonstranten versammelt. Sie hätten teilweise Knüppel und riefen Slogans. Bewaffnete Polizei habe direkt vor dem Hotel Position bezogen.

Xinhua berichtet weiter, uigurische Demonstranten hätten Steine auf Reporter der staatlichen Nachrichtenagentur geworfen. Die Agentur zitiert auch einen Bewohner, bei dem es sich um einen Chinesen zu handeln schien, mit den Worten, er und andere seien bereit "zurückzuschlagen", falls sie von Demonstranten angegriffen würden.

Unterdessen meldet die Nachrichtenagentur Reuters, pro-uigurische Aktivisten hätten die chinesische Botschaft in den Niederlanden angegriffen. Die Demonstranten sollen nach Aussagen eines chinesischen Regierungsbeamten Fensterscheiben des Botschaftsgebäudes eingeschmissen haben. Bereits am Montag haben dem chinesischen Regierungssprecher zufolge Unbekannte Molotow-Cocktails in das chinesische Konsulat in München geworfen. Die Polizei in München bestätigte SPIEGEL ONLINE, dass es am Montag einen Zwischenfall gab, nannte aber keine Details.

Am Dienstagvormittag war es in Ürümqi erneut zu Protesten von Uiguren gekommen. Hunderte Frauen forderten die Freilassung ihrer Männer und Söhne. Als die Behörden ausländischen Journalisten ausgebrannte Geschäfte zeigen wollten, riefen die Demonstrantinnen den Berichterstattern zu: "Sie haben unsere Männer und Söhne verhaftet." Viele brachen in Tränen aus und reckten ihre Fäuste in die Luft. "Wir Muslime wollen Freiheit, es geht nur um Freiheit und Gerechtigkeit", erklärte ein bärtiger älterer Mann. "Hier herrschen zwei Gesetze - eines für uns und eines für Han-Chinesen", fügte er hinzu. "Wenn ihr geht, werden sie uns wieder schlagen", sagte ein junger Mann zu den Journalisten und eine Frau weinte: "Alles ist hier so unfair."

Danach zogen rund 150 Frauen auf die Hauptstraße, wo Wasserwerfer und Hunderte Polizisten aufmarschierten. Einige der Beamten hatten schussbereite Waffen in den Händen. Nach rund 40 Minuten löste sich die Demonstration auf. Davor war es zu Rangeleien zwischen den Uniformierten und Demonstranten gekommen. Die Windschutzscheibe eines Polizeifahrzeuges ging zu Bruch. Die Journalisten wurden abgedrängt.

Massenverhaftungen nach Protest

Laut der Nachrichtenagentur Xinhua haben die chinesischen Behörden bislang 1434 Menschen wegen ihrer mutmaßlichen Rolle in den schweren Ausschreitungen vom Sonntag festgenommen, darunter 55 Frauen. Die Polizei habe damit begonnen, die Verdächtigen zu verhören. Zuvor war von 700 Festnahmen die Rede. Wie Xinhua weiter meldete, vermutet die Polizei, dass in anderen Orten der Provinz Xinjiang neue Aufstände geplant werden. Die Behörden kündigten "schärfste Maßnahmen" an, um die Stabilität zu gewährleisten.

Nach offiziellen Angaben kamen bei den Unruhen am Sonntag in Xinjiang 156 Menschen ums Leben, mehr als tausend wurden verletzt. Exil-Uiguren gehen sogar von höheren Opferzahlen aus. Der Weltverband der Uiguren (WUC) sprach am Montag im Deutschlandradio Kultur von über 800 Toten.

Sorge in den USA und Deutschland

Die US-Regierung zeigte sich "tief besorgt" über die Ereignisse in der Region. Die USA riefen alle Seiten in Xinjiang zur Zurückhaltung auf, teilte der Sprecher des Weißen Hauses, Robert Gibbs, mit. Da die Umstände zunächst noch unklar seien, "wäre es verfrüht, weitere Kommentare oder Spekulationen abzugeben", teilte Gibbs am Montag mit.

Der Menschenrechtsbeauftragte der Bundesregierung, Günter Nooke (CDU), forderte die chinesischen Behörden zum Verzicht auf Gewalt gegen uigurische Demonstranten auf. Die Behauptung der Regierung in Peking, die Proteste der muslimischen Minderheit im Nordwesten Chinas würden von außen gesteuert, sei unglaubwürdig, sagte Nooke der "Berliner Zeitung".

Der außenpolitische Sprecher der Unionsfraktion, Eckart von Klaeden, forderte die chinesische Führung in der "Berliner Zeitung" auf, internationale Beobachter und Journalisten in das bisher abgesperrte Gebiet zu lassen, um unabhängige Berichte zu ermöglichen.

Die Menschenrechtsorganisation Amnesty International verlangte, dass Peking "vollständig Rechenschaft" über die Todesopfer ablege. Außerdem müsse China die Verhaftungswelle nach den Unruhen erklären, teilte die Organisation am Dienstag mit.

Exil-Uiguren verlangen internationale Untersuchung

Hilfe von der internationalen Gemeinschaft forderte die im Exil lebende Uiguren-Führerin Rebiya Kadeer. Sie verlangte eine internationale Untersuchung der Unruhen. "Wir hoffen, dass die Uno, die USA und die EU Ermittler schicken um zu untersuchen, was wirklich in Xinjiang passiert ist", sagte Kadeer in Washington.

Die chinesische Regierung wirft der Chefin des Uigurischen Weltkongresses vor, hinter den Ausschreitungen zu stecken. Der Weltkongress seinerseits berichtete, es gebe Zeugenaussagen, wonach Dutzende Uiguren von der Polizei erschossen oder zu Tode geprügelt wurden.

anr/AFP/Reuters/dpa/AP
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