Zum Tod von Uri Avnery Radikal bis zum Schluss

Uri Avnery
Foto: imago/epdDie Erbfeinde des Nahen Ostens trafen sich im Sommer vor 25 Jahren in einem mondänen Landhaus in Norwegen. Dort, in einem Waldgebiet am Rande Oslos, verhandelten hochrangige israelische und palästinensische Emissäre tage- und nächtelang über das scheinbar Unmögliche: Frieden.
Am 20. August 1993 war es so weit. Beide Konfliktparteien einigten sich im Grundsatz darüber, wie ein Wandel durch Annäherung aussehen könnte. Nun, auf den Tag genau ein Vierteljahrhundert später, ist einer, der viele Jahrzehnte seines langen Lebens für den Frieden zwischen Israelis und Palästinensern gekämpft hatte, gestorben: Uri Avnery.
Er starb wenige Wochen vor seinem 95. Geburtstag in der Nacht zu Montag in Tel Aviv, nachdem er Anfang des Monats einen Schlaganfall erlitten und seither im Krankenhaus gelegen hatte. Dass ausgerechnet Avnery zum Kämpfer für den Frieden werden und den Alternativen Nobelpreis erhalten sollte, war nicht von Anfang an klar.
Erstes Leben: Von Hannover nach Tel Aviv
Avnery wurde am 10. September 1923 als Helmut Ostermann im westfälischen Beckum geboren. Er war das jüngste von vier Kindern einer wohlhabenden jüdischen Familie und wuchs in Hannover auf. Dort ging er gemeinsam mit Rudolf Augstein auf eine katholische Schule. In seinem Nachruf auf den SPIEGEL-Gründer schrieb Avnery 2002, Augstein sei sein "ältester lebender Freund" gewesen.
"Es waren die ersten Monate des Dritten Reiches, aber das hinderte Rudi Augstein nicht, sich mit mir anzufreunden", erinnerte er sich damals. "Ich glaube, wir waren die zwei besten Schüler in der Klasse. Wir begleiteten einander auf dem Heimweg, wir besuchten uns gegenseitig. 50 Jahre später behauptete er, er könne sich an die Kuchen meiner Mutter erinnern."
Avnery floh gemeinsam mit seiner Familie 1933 vor den Nationalsozialisten über Marseille in das damalige britische Mandatsgebiet Palästina. Es war der Beginn eines neuen Lebens.
Zunächst wohnten sie in Nahalal, dem ersten zionistischen Moschav des Landes, verließen die landwirtschaftliche Genossenschaftssiedlung jedoch nach einigen Monaten Richtung Tel Aviv. Dort verbrachte Avnery sein weiteres Leben - die meiste Zeit davon mit seiner Frau Rachel, einer gebürtigen Berlinerin, die bereits 2011 verstarb. Die beiden hatten keine Kinder.
Zweites Leben: Aus Helmut Ostermann wurde Uri Avnery
Als Teenager war Avnery stramm rechts - und Mitglied der radikalen Untergrundbewegung Irgun, die vom späteren Premierminister Menachem Begin angeführt wurde.
Im israelischen Unabhängigkeitskrieg war Avnery, der sich mittlerweile von der Gruppe gelöst und seinen Geburtsnamen abgelegt hatte, Mitglied der Kommandoeinheit "Samsons Füchse". Kurz vor Ende der Kampfhandlungen wurde er schwer verletzt - und zum literarischen Star.
Seine während des Krieges im "Stahlgewitter"-Stil von Ernst Jünger verfassten Artikel wurden unter dem Titel "In den Feldern der Philister" zum Bestseller. Gleichzeitig markierte dieses Buch den Anfang vom Ende seines zweiten Lebens.
Drittes Leben: Von rechts nach links
Denn Avnery veröffentlichte kurze Zeit später den zweiten, hektisch auf einer Hermes-Schreibmaschine zusammengeschriebenen Band seiner Kriegserinnerungen. Der Titel war Programm: "Die andere Seite der Münze". Er schilderte darin die Schattenseiten des Krieges, die Verrohung des Menschen - und wurde für viele Israelis zur Persona non grata. Er blieb es.

Uri Avnery bei einer Demonstration (Archiv)
Foto: AWAD AWAD/ AFPDer Renegat übernahm 1950 schließlich die Wochenzeitschrift "Haolam Haseh" (auf Deutsch: "Diese Welt"). Er führte das linke Blatt, das mit Enthüllungs- und Sexgeschichten im prüden Israel der Gründerjahre immer wieder für Skandale sorgte, als Mitherausgeber und Chefredakteur rund vier Jahrzehnte lang.
Ab den späten Sechzigerjahren wurde er auch in Deutschland bekannt. Avnery schrieb zahlreiche Artikel und Essays, die der SPIEGEL veröffentlichte. Daneben war er auch drei Wahlperioden lang Mitglied der Knesset - und überlebte 1975 einen Mordversuch.
Avnery hielt aber weiter an seinen politischen Ansichten fest. 1979, als Israel mit Ägypten über Frieden verhandelte, rief Avnery der Tageszeitung "Haaretz" zufolge seinen Gegnern in der Knesset zu: "Nächstes Jahr werden wir in unsere Autos steigen und an den Wochenenden nach Kairo und Alexandria fahren. Zwei Tage später werden wir den Zug nach Damaskus und Aleppo nehmen, wir werden nach Algier und Bagdad fliegen, nach Casablanca und in den Sudan segeln."
Während des ersten Libanonkrieges Anfang der Achtzigerjahre traf er dann auch noch als erster israelischer Staatsbürger den damaligen Erzfeind Yassir Arafat. Die Begegnung zwischen ihm und dem PLO-Chef fand in Beirut statt.

Avnery und Arafat (2004)
Foto: NASSER SHIYOUKHI/ APIn den darauffolgenden Jahren wurde es immer stiller um den Mitbegründer der Menschenrechtsorganisation Gusch Schalom (auf Deutsch: Friedensblock), die sich ab den frühen Neunzigerjahren gegen die israelische Besatzung der Palästinensergebiete aussprach.
Während der Zweiten Intifada reiste er dorthin, genauer: nach Ramallah, zum Amtssitz von Arafat. Dort lebte Avnery einige Zeit als "menschliches Schutzschild", da er eine gezielte Tötung des Palästinenserführers durch die israelische Armee fürchtete.
Radikal blieb er bis zum Tod. Sein extremes Leben hat Avnery noch vor seinem Ableben in einer zweibändigen Autobiografie aufgeschrieben. Auf 1138 Seiten. Weniger ging nicht.