Urteil gegen israelische Soldaten Madschid, der menschliche Schutzschild

Israelische Rekruten entdecken im Gaza-Krieg verdächtige Päckchen - und zwingen einen neunjährigen Palästinenser, sie zu öffnen. Ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit, stellte jetzt ein Gericht in Israel fest und verurteilte die Soldaten. Doch Kameraden nehmen sie immer noch in Schutz.
Madschid Raba und seine Mutter Afaf: Einschusslöcher im Flur ihres Apartmentblocks

Madschid Raba und seine Mutter Afaf: Einschusslöcher im Flur ihres Apartmentblocks

Foto: SPIEGEL ONLINE

Madschid Raba ist stolz. Er war im Fernsehen. Reporter wollen mit ihm sprechen. Auf dem Schulhof ist er ein begehrter Spielkamerad.

Doch wenn er erzählt, wie er sich an jenem Januarmorgen aus Angst in die Hosen machte - dann schaut er verschämt auf seine Knie und rückt näher an seine Mutter heran. Dann ist das Lachen aus seinem Gesicht verschwunden.

Madschid ist erst elf. Doch der Palästinenserjunge hat mehr erlitten als viele Erwachsene. 2009 missbrauchten ihn israelische Soldaten als menschlichen Schutzschild - der Junge aus Gaza-Stadt musste Plastiksäcke öffnen, in denen israelische Soldaten Sprengfallen vermuteten.

Gaza-Kriegs

Was die Rekruten dem Jungen angetan haben, ist ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit - das hat jetzt ein israelisches Gericht festgestellt. Die beiden nicht genannten Soldaten wurden schuldig gesprochen. Das Strafmaß steht noch nicht fest; ihnen drohen eine Degradierung und bis zu drei Jahre Haft. Das Urteil ist das erste, in dem ein während des begangenes Verbrechen gegen die Menschlichkeit gesühnt wurde.

Hamas

Madschid erlebte damals, im Januar 2009, wie der Krieg über seine Heimat kam. Der Gaza-Feldzug der israelischen Armee gegen die über den Küstenstreifen herrschende fand buchstäblich vor seiner Haustür statt. Tag und Nacht schlugen israelische Geschosse rund um den Apartmentblock im Stadtteil Tel al-Hawa im Süden von Gaza-Stadt ein.

Als die israelischen Bodentruppen näher rückten, nahm Madschids verwitwete Mutter Afaf ihre drei Kinder und flüchtete in den Keller. Mit Dutzenden Nachbarn wurden die Rabas dort am Morgen des 14. Januar von den Israelis überwältigt. Eine Patrouille schoss erst durch die Tür und stürmte dann den Raum. "Sie haben die Männer in eine Ecke getrieben, sie gefesselt und ihnen die Augen verbunden", erzählt der Junge.

Die Soldaten befahlen Madschid, verdächtige Tüten zu öffnen

Er versteckte sich hinter seiner Mutter, als ihn einer der Soldaten ergriff und mit sich zog. Seine Mutter schrie. Madschid nässte sich vor Angst ein. Die Soldaten schoben ihn in eine abgetrennte Ecke des großen Kellerraums. Vor der dortigen Toilette lagen zwei verknotete Plastiktüten, die Männer witterten eine Sprengfalle. Sie befahlen Madschid, die Tüten zu öffnen, sie selbst suchten hinter einer Mauer Schutz. Zitternd knotete Madschid die erste Tüte auf: In ihr waren Geld, Papiere und Schmuck, die wohl ein Nachbar mit auf die Flucht genommen hatte.

"Bei der zweiten Tüte habe ich den Knoten nicht aufbekommen. Weil die Soldaten dachten, dass da ein Paket Sprengstoff drin ist, dachte ich auch, dass die Tüte gleich in die Luft fliegt. Ich habe so gezittert, dass ich meine Hände nicht kontrollieren konnte", sagt Madschid. Einer der Soldaten sei daraufhin aus der Deckung gekommen, habe ihn angeschrien und ihm eine Ohrfeige gegeben. Dann habe der Soldat zweimal auf die Tüte geschossen. Madschids Mutter Afaf brach im Hauptkellerraum zusammen: "Ich hörte die Schüsse und dachte, der Soldat hat meinen Sohn erschossen."

Eine Minute später kam Madschid auf sie zugerannt.

Es dauerte weitere zehn Stunden, bis die Rabas und ihre Nachbarn in ihre Wohnungen zurückkehren konnten. Mutter Afaf erzählte Madschids erwachsenem Halbbruder von den Ereignissen im Keller. Empört wandte dieser sich an al-Mezan, eine im Gaza-Streifen aktive Menschenrechtsgruppe. Diese sammelte Zeugenaussagen und übereichte die Akte dem von der Uno beauftragten Richter Richard Goldstone. Er soll Verbrechen gegen die Menschlichkeit aufklären, die während des Gaza-Krieges begangen wurden. Auch bei der israelischen Armee reichte Mezan eine Beschwerde ein.

In seinem Bericht vor rund einem Jahr warf Goldstone sowohl der Hamas als auch der israelischen Armee Verbrechen gegen die Menschlichkeit während des Gaza-Feldzugs vor. Bei der israelischen Armee gingen 150 Beschwerden über das Verhalten von Soldaten während des Krieges ein, in 36 Fällen sollen Kriegsverbrechen begangen worden sein. Der oberste Staatsanwalt des Militärs ermittelte in 47 Fällen, doch in nur einem Fall wurden Soldaten für schuldig befunden - im Fall Madschid Raba.

"Ich weiß nicht, warum sie den Fall meines Sohnes untersucht haben", sagt Mutter Raba. "Es gab so viel schlimmere Fälle von Kriegsverbrechen, bei denen Kinder gestorben sind." Dass es zu einer Verurteilung der Peiniger ihres Sohnes gekommen ist, erfüllt Afaf Raba mit Genugtuung. "Als uns die Israelis für die Aussage von Madschid ins Gericht brachten, haben sie uns mit Respekt behandelt. Meinem Sohn ist Gerechtigkeit zuteil geworden."

Das sehen die beiden verurteilten Soldaten der Givati-Brigade anders. Sie bestreiten zwar nicht, das Kind zum Öffnen mutmaßlicher Sprengsätze missbraucht zu haben - sind sich aber keinerlei Unrechts bewusst.

Trotz der eindeutigen Rechtslage sehen die Soldaten sich selbst als Opfer in dem Fall - und nicht etwa Madschid. "Statt Geld zu sparen, verschwende ich es für Gerichtskosten", beschwerte sich einer der namentlich nicht genannten Soldaten bei den Richtern. "Statt um die Welt zu reisen, tingele ich zwischen Gerichtshöfen hin und her. In Israel ist es üblich, dass junge Leute nach dem Ende des Militärdienstes auf Weltreise gehen.

Täter erhalten Rückendeckung ihrer Offiziere

Die beiden Soldaten wurden auch von ihren Offizieren in Schutz genommen. Unter den mehr als 200 Soldaten, die jetzt vor dem Gerichtsgebäude gegen die Verurteilung ihrer Kameraden protestierten, waren auch der Befehlshaber der Givati-Brigade, Oberst Moni Katz, deren ehemalige Befehlshaber Moni Horev und der ehemalige stellvertretende Generalstabschef Uzi Dayan: "Ich bin hergekommen, um die Mitglieder von Kampfeinheiten zu unterstützen und klar zu machen, dass sie keine Kriminellen sind."

Die Staatsanwaltschaft hat harte Strafen für die beiden Soldaten gefordert. "Die Botschaft muss klar und deutlich sein", sagt die vorsitzende Staatsanwältin Dorit Toval. Die Verteidigung plädiert für Milde - wegen des Seelenleids, das den Soldaten widerfahren sei. Vielleicht sei bei Madschid Raba psychologischer Schaden angerichtet worden, gab der Verteidiger Ilan Katz zwar zu. "Aber niemand fragt, wie sehr die Soldaten darunter gelitten haben, angeklagt worden zu sein."

Madschids Mutter verfolgt das Spektakel vor dem Fernseher daheim in Tel al-Hawa. Sie versteht nicht, dass die Soldaten sich nicht für ihre Taten schämen und auch noch unterstützt werden. Menschenrechte müssten doch gerade im Krieg eingehalten werden, sagt Raba. "Jeder, der diese Soldaten unterstützt, muss wissen, dass Kinder in Kriegszeiten behütet werden müssen."

Madschid ist zufrieden, dass seine Peiniger nicht ohne Strafe davonkommen werden. Drei Jahre Gefängnis reichten jedoch nicht, sagt er. "Die Ohrfeige, die mir der eine gegeben hat, war so hart, dass er zehn Jahre dafür bekommen sollte."

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