Deutschland-Bild in den USA "Irgendwann erschießt dich noch mal einer"
Der Safeway-Supermarkt in Washingtons 17. Straße hat nicht viel zu bieten. Wir nennen ihn hier alle den Sowjet-Safeway. Die Auswahl ist beschränkt, an den Kassen muss man lange warten, Alkohol gibt es nicht, und irgendwas ist immer ausverkauft (Kaffeefilter zuletzt) oder übers Ablaufdatum drüber (gern Salat). Trotzdem kaufe ich immer dort ein.
Aber vor einiger Zeit ging nichts, der ganze Laden war abgesperrt, überall Polizei. Ein Mann sei angeschossen worden, hieß es. Ein Raubüberfall auf den Sowjet-Safeway - wer macht denn so was? Tatsächlich, so stellte sich später heraus, war es ein Überfall auf ein paar Leute vor dem Laden.
Shootings gehören zum Alltag
Bewaffnet, natürlich. Denn auch der gemeine Straßenräuber scheint es hier unter einer Feuerwaffe nicht zu machen. Dabei sind die Waffengesetze in der Hauptstadt restriktiver als in anderen Bundesstaaten. "Shootings" gehören dennoch zum Alltag, werden in den Lokalspalten vermeldet, fertig. Jeder hat sich daran gewöhnt.
Ich mag die USA und ich mag die Art der Leute. Ganz ehrlich, es ist ein großartiges Land. Aber diese Sache mit den Waffen verstehe ich einfach nicht. Dass es jetzt sogar vorm Sowjet-Safeway um die Ecke passieren kann, hat mich nachdenklich gemacht. Hätte ja auch mich treffen können.
Das war Mitte Juli. Fünf Tage später stürmte ein Irrer das Kino von Aurora, Colorado und erschoss zwölf Menschen. In meinem Freundeskreis hatte plötzlich keiner mehr Lust auf Kino.
Kurz darauf traf ich bei einer Recherche auf zwei Polizisten. Logisch, dass wir auch über Colorado sprachen. Ihre Position: Hätten die Leute in dem Kino Waffen getragen, hätte man den Attentäter rasch erledigen können. Das stimme zwar, aber wäre es nicht besser, wenn gar keiner eine Waffe trage? Nein, schüttelten sie den Kopf, es gebe immer Verrückte, wieso sollte man sich selbst wehrlos machen?
Es war ein Sommer voller Waffen für mich. In Florida besuchte ich mit Kollegen eine "Gun Show" (Sehen Sie hier das Video ). Da war was los! Schon gleich am Eingang gab es ein Maschinengewehr aus dem letzten Weltkrieg zu bestaunen. Es schieße bis zu einem Kilometer weit, meinte der Verkäufer, man könne es sich in den Garten stellen. Warum?, fragten wir. Nur so, meinte er. Ganze Familien trotteten durch die Halle, es erinnerte mich an all die Miniatur-Eisenbahn-Ausstellungen in irgendwelchen Messehallen, die ich als Kind so gern besucht hatte. Nur ging es hier um Waffen.
Eine Frau verkaufte Puppen - auf die kann man ballern, dann läuft ihnen rote Soße aus dem Mund. Eine Figur sah aus wie Osama bin Laden (Nein, versicherte die Frau, das sei er nicht direkt), ein Pappkamerad hatte eine Armbinde mit Hakenkreuz. Und plötzlich knallte es gewaltig. Alle zuckten zusammen, ich wollte schon unter den Tisch mit dem Weltkriegs-MG kriechen. Aber es war nur ein Kind, das eine Eisenplatte umgeworfen hatte. In dieser Halle mit den gut 2000 Menschen war es fürchterlich still. Alle dachten genau.
Die Deutschen laufen wehrlos herum? Skurril
Ich kam mit einem Waffenverkäufer ins Gespräch. Die Briten, sagte ich, die greifen bestimmt nicht mehr an. Ich sei zwar Deutscher, könne ihm aber versichern, dass der EU-Partner keine Invasion des amerikanischen Kontinents plane. Wofür brauche es dann noch den Verfassungszusatz, der jedem Amerikaner das Recht auf die Waffe gibt? Der aus einer Zeit stammt, in der das junge Amerika ein Volk von Milizionären brauchte, ein Land unter Waffen, um sich auch für mögliche Angriffe der alten Kolonialherren zu rüsten?
Ach nein, sagte er, vor den Briten fürchte er sich bestimmt nicht. Das mit den Waffen sei nun mal Tradition. Aber jetzt mal im Ernst, fragte er, ob wir in Deutschland denn wirklich völlig wehrlos durch die Gegend liefen? Ich nickte. Skurril, sagte er.
Und irgendwie fand ich unsere Waffenlosigkeit jetzt schon selbst komisch. Ich musste also dringend raus, vorbei an dem Jungen mit dem roten Kopf und der Riesen-Schlange um den Hals ("Super, ne?", rief mir die Mutter hinterher), weg von dieser ganzen Waffen-Erotik.
Zurück in Washington ärgerte ich mich über einen Typen im Auto vor mir. Na gut, es war mehr: Ich habe ihm den Mittelfinger gezeigt. Plötzlich hält der Kerl, steigt aus, schreit erst mein Auto an ("Scheiß VW!"), dann belegt er auch mich mit entsprechendem Vokabular. Was tun? Ich denke an einen guten Freund, einen Bayern. Seine Frau wirft ihm manchmal vor, so rabiat Fahrrad zu fahren in Washington, so deutsch eben: "Irgendwann erschießt dich noch mal einer", sagt sie.
Genau das ging mir nun durch den Kopf. Der Typ steht vor meinem Auto, meine Freundin bemerkt trocken vom Beifahrersitz: "Der hat bestimmt 'ne Knarre." Super, denke ich und glotze den Kerl an. Der zeigt mir jetzt beide Mittelfinger und schiebt noch einen Spruch über mein Auto hinterher. Ich zucke die Achseln. Er kocht.
Dann, endlich, springt die Ampel auf Grün, hinten hupt einer, und der Mann verzieht sich tatsächlich in sein Auto. Weiter geht's.
Gut, man kann Probleme also auch anders lösen.