US-Gesetzesentwurf Vom "Land of the free" zum Überwachungsstaat
Tiefschwarze Balken bedecken fast jede Seite, die Jameel Jaffer in dem Aktenordner vor sich aufschlägt. "Alle wichtigen Absätze haben sie unleserlich gemacht", sagt der Bürgerrechtler entgeistert. "Das ist eigentlich nur in Fragen der nationalen Sicherheit erlaubt, aber diese Regierung ist besessen vom Drang nach Geheimhaltung." Erst vor ein paar Tagen traf der Ordner im Hauptquartier der angesehenen Bürgerrechtsorganisation American Civil Liberties Union (ACLU) im Zentrum von Manhattan ein. Absender: das US-Justizministerium.
"Ende letzten Jahres haben wir das Ministerium vor einem Bundesgericht verklagt, damit es uns Auskunft darüber gibt, wie viele US-Bürger es unter Terrorverdacht überwachen lässt und verhaftet hat", erklärt Jaffer und blickt aus seinem Bürofenster über den Hudson River, bis zur Freiheitsstatue. Nach ernstem Zureden des Richters lenkten die Anwälte des Ministeriums damals scheinbar ein. "Und jetzt haben sie uns das hier geschickt! Die Justizorgane können vom Volk nicht mehr zur Rechenschaft gezogen werden. Gleichzeitig ist diese Regierung aggressiver an Informationen über ihre Bürger interessiert als jede andere in der Geschichte der USA."
Der 32-Jährige und Dutzende weitere Aktivisten in der ACLU haben den Kampf aufgenommen gegen den "Patriot Act". Mit dem wenige Wochen nach den Terroranschlägen des 11. September 2001 hastig verabschiedeten Gesetz weitete der US-Kongress radikal die Befugnisse von Sicherheitsorganen aus, US-Bürger und Amerika-Besucher zu überwachen und auszuspionieren.
Schon arbeitet das Justizministerium allerdings an einem Gesetz für den "Patriot Act II", dessen 83-seitigen Entwurf das "Center for Public Integrity" Anfang Februar im Internet veröffentlichte. Darin drohen Amerikanern, die eine von der Regierung als terroristisch bezeichnete Gruppe unterstützen, der Entzug der Staatsbürgerschaft und die Abschiebung ins Ausland. Außerdem sollen US-Bürger erstmals heimlich festgenommen und in Haft gehalten werden können - ohne dass der Staat jemals Angehörige informieren muss. Auch eine nationale DNS-Datenbank für Terrorverdächtige gehört zu den Plänen der Beamten von Justizminister John Ashcroft.
Terrorkampf gegen Amerikaner
"Schon der erste Patriot Act ging viel zu weit und hat die demokratischen Kontrollmechanismen in unserem Land völlig ausgehebelt", empört sich Jaffer. "Der zweite Patriot Act soll uns nun noch mehr Bürgerrechte nehmen, ohne uns wirksam gegen Terroristen zu schützen. Das ist verfassungswidrig." Die ACLU will die Regierungspläne durchkreuzen: Vergangene Woche schaltete sie ganzseitige Anzeigen in der "New York Times", die die Leser zum Widerstand aufriefen. "Keep America safe and free" ist das Motto der 3,5 Millionen Dollar teuren Kampagne, die Bushs Kurs in Richtung Überwachungsstaat mit den antikommunistischen Verfolgungen unter Senator Joseph McCarthy in den fünfziger Jahren vergleicht.
Tatsächlich spiegelt die wachsende Opposition gegen den "Patriot Act II" die Angst vieler Amerikaner wider, dass sich die Heimatfront im "Krieg gegen den Terror" bald gegen sie selbst richten könnte. So heißt es in Absatz 501 des geplanten Gesetzes, dass einem Amerikaner die Staatsbürgerschaft entzogen werden kann, "wenn er, mit der Absicht, seine Staatsangehörigkeit aufzugeben, einer Gruppe beitritt oder ihr konkrete Unterstützung bietet, die die Vereinigten Staaten als eine 'terroristische Organisation' bezeichnet hat". Das gelte auch, wenn der Bürger von den vermeintlich terroristischen Aktivitäten der Gruppe nichts gewusst und selbst nur legal gehandelt hat.
Entzug der Staatsbürgerschaft
Während ein US-Bürger einen Verzicht auf die Staatsbürgerschaft bisher offiziell erklären muss, soll dies nunmehr aus seinem "Verhalten rückgeschlossen" werden. Über die Ausbürgerung von Amerikanern hätte in Zukunft allein der US-Präsident zu entscheiden - unanfechtbar. Zu diesem in der US-Geschichte unerhörten Schritt wird das Justizministerium der Fall des Kaliforniers John Walker Lindh motiviert haben, der sich den afghanischen Taliban anschloss und während "Enduring Freedom" gegen US-Streitkräfte kämpfte. Dafür wurde der 21-Jährige inzwischen zu zwanzig Jahren Haft verurteilt, doch der vermeintliche Landesverrat und die Debatte über Lindhs religiöse Gründe dafür waren für US-Regierung hochpeinlich. Das könnte sie sich in Zukunft ersparen, indem sie "unamerikanische" Mitglieder der Gesellschaft schlicht desavouiert und ausbürgert - so wie es Saudi-Arabien mit Osama Bin Laden getan hat.
Einmal ihrer Staatsbürgerschaft beraubt, könnten US-Bürger als Staatenlose ins Ausland deportiert werden. Kurzfristig würde der Schritt allerdings wohl eher dem Entzug der Bürgerrechte dienen, damit Terrorverdächtige ohne rechtsstaatlichen Schutz behandelt werden können. Schon jetzt verlegen die CIA und das FBI eingestandenermaßen Verhöre vermeintlicher Mitglieder von Osama Bin Ladens Terrornetz al-Qaida in rechtsfreie Räume wie den US-Militärstützpunkt Guantanamo Bay auf Kuba oder in verbündete Staaten wie Ägypten, in denen regelmäßig angewandte Foltermethoden bessere "Ergebnisse" versprechen. Dass den jüngst in Pakistan verhafteten Top-Terroristen Chalid Scheich Mohammed genau dieses Schicksal erwarte, äußern dieser Tage ehemalige Regierungsbeamte offen in US-Fernsehsendern.
Lesen Sie im zweiten Teil: Wie unter Patriot Act II selbst Tierschützer als Terroristen gelten und ihnen die Todesstrafe drohen könnte
Was "Patriot Act II" in den Augen von Rechtsexperten besonders fragwürdig macht, ist die äußerst unklare Definition dessen, was eine terroristische Organisation ist. Darunter könnten, je nach Belieben der Regierung, auch militante Tierschutzgruppen fallen. Ihre Mitglieder könnten - so sieht es der Gesetzesvorschlag vor - schnell von der ebenfalls geplanten Ausweitung der Todesstrafe betroffen sein: Sollte etwa auf einem Protestmarsch ein unbeteiligter Passant gewaltsam ums Leben kommen, wäre die Todesstrafe auf Demonstranten anwendbar.
Das US-Justizministerium war für eine Stellungnahme nicht erreichbar. Nachdem der Gesetzesvorschlag durchsickerte, versicherten Ministeriumssprecher jedoch, bei dem Dokument habe es sich lediglich um einen ersten Entwurf gehandelt. Sie bemühten sich um politische Schadensbegrenzung: weder Minister Ashcroft noch das Weiße Haus hätten bisher Kenntnis von den Plänen erhalten.
Derweil regt sich auch im Kongress erster Widerstand gegen "Patriot Act II". "Wir täten der Nation keinen Dienst, wenn wir dieses Gesetz so verabschieden würden", sagte der demokratische Senator Patrick Leahy vergangene Woche. "Alle suchen nach einer schnellen Lösung, um uns sicherer zu machen, aber dieses Gesetz macht uns nicht sicherer." Gleichzeitig legten Leahy und sein republikanischer Kollege Arlen Specter, beide Mitglied des Justiz-Ausschusses, einen Bericht vor, der erstmalig Machtmissbrauch und ungesetzliches Vorgehen des FBI unter dem "Patriot Act" kritisiert und mehr parlamentarische Kontrolle einfordert. "Leider haben es das Justizministerium und das FBI mitunter abgelehnt, auf völlig legitime Fragen der Aufsicht zu antworten", heißt es in dem Bericht. Beide Senatoren unterstützen ein neues Gesetzesvorhaben, das die Justizorgane zwingen soll, wieder wie früher Rechenschaft über ihr Handeln abzulegen.
Demokratie wird abgegraben
Bislang können die Behörden unter dem "Patriot Act" alle polizeilichen Maßnahmen geheim halten. Er wendet nämlich kurzerhand ein Gesetz aus dem Jahre 1978 an, das damals der Abwehr ausländischer Spionage galt. Ein seinerzeit geschaffenes streng geheimes Gremium erteilt dem FBI heute problemlos Tausende Durchsuchungsbefehle, auch wenn die Zielobjekte schon lange keine sowjetischen Agenten mehr sind - sondern amerikanische Bürger selbst. Längst nutzt die Polizei diese einfache Methode auch nicht mehr nur bei Terrorverdacht, sondern in ganz regulären Strafverfahren. Das hat für Staatsanwälte den großen Vorteil, dass heimlich erlangte Beweise vor Gericht verwandt werden dürfen, ohne die Quelle preisgeben und die Stichhaltigkeit prüfen lassen zu müssen.
Selbst Verhaftungen an sich sollen in Zukunft geheim zu halten sein, geht es nach den Autoren des "Patriot Act II". Wie in südamerikanischen Militärdiktaturen in den siebziger Jahren würden FBI-Agenten dann US-Bürger auf bloßen Verdacht hin nachts aus ihren Wohnungen oder von der Arbeit abholen und auf unbestimmte Zeit einsperren dürfen. Weder ihre Familien noch Anwälte hätten ein Recht darauf, von ihrem Verbleib zu erfahren. Menschen würden einfach verschwinden. So wie die vermutlich etwa 900 Einwanderer aus muslimischen Ländern, die die US-Polizei nach dem 11. September 2001 landesweit in wochenlange Untersuchungshaft steckte - ohne konkrete Anklage und zum Teil ohne Rechtsbeistand. Fast alle wurden inzwischen entlassen, weil sich der Terror-Verdacht nicht erhärtete.
Bürgerrechtler hoffen, dass ausreichend Opposition den neuen "Patriot Act" noch stoppen kann. Am Dienstag gab es vor dem Justizausschuss des Senats eine Anhörung von Justizminister Ashcroft, in der er Aufklärung über Einzelheiten des durchgesickerten Entwurf des "Patriot Act II" erklären sollte. Er lehnte das ab, weil der Entwurf "noch nicht endgültig ausgearbeitet" sei. Die Senatoren Patrick Leahy und Russ Feingold waren sichtlich verärgert darüber. Feingold ist der einzige Senator, der damals gegen den ersten "Patriot Act" gestimmt hat. "Sie wollen den habeas corpus aufheben, das ist seit dem Bürgerkrieg nicht geschehen", schimpft Feingold, und Leahy urteilt: "Dieser Patriot Act ist nicht sehr patriotisch, wenn er heimlich ausgearbeitet wird."
Immerhin sind bereits zwei Regierungsprogramme an öffentlicher Empörung gescheitert: das Total Information Awareness, mit dem das Internet kontrolliert werden sollte, und das so genannte TIPS, mit dem die Regierung im Stasi-Stil Tausende Spitzel rekrutieren wollte, um Nachbarn und Verwandte auszuspionieren. Für Bürgerrechtler Jaffer ist die Sache eindeutig: "Die Bush-Regierung nutzt die Terrorgefahr, um den Menschen Angst zu machen. Die Demokratie wird Stück um Stück abgegraben, bis keine Demokratie mehr da ist."